Harry Bergmann schaut im Gastblog ins Narrenkastl und sieht, dass der Graben zwischen Wissenschaft und Politik noch tiefer geworden ist.

Der Narr – der ja nur in den Augen derer ein Narr ist, die kein anderes Weltbild zulassen als das ihre – denkt viele Jahrhunderte zurück. Er denkt an das 18. Jahrhundert, er denkt an die Aufklärung, er denkt an Immanuel Kant, und er denkt an das, was Kant gesagt hat: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." Er denkt in letzter Zeit immer öfter daran, nämlich immer dann, wenn Politiker etwas beschließen, was wider jede Vernunft und wider wissenschaftliche Erkenntnisse ist.

Die österreichische Regierung hat vor wenigen Tagen das Ende der Quarantänepflicht entschieden und nicht nur entschieden, sondern auch entgegen allen Bedenken und gegen alle Bedenkenden durchgeboxt. Hat sie dabei eines der obersten Prinzipien der Aufklärung vergessen?

"Die Gesellschaft soll aus mündigen, freien Menschen bestehen", sagten die Aufklärer. "Menschen, die von Vernunft geleitet sind." Die Vernunft und das Wissen, das durch wissenschaftliche Erkenntnisse begründet war – und eben nicht Vorurteile und Willkür –, sollten die Leitbilder sein, mit denen sich der Mensch von seiner Unmündigkeit befreien konnte. Das war um 1750 herum. Heute, im Jahre 2022, hält man diese wissenschaftlichen Erkenntnisse als Basis von Entscheidungen wohl wieder für Humbug und Aberglaube.

Und was ist aus dem aufklärerischen Ideal der Freiheit geworden, jener Freiheit, die die Menschen nur dann haben, wenn sie sich damit nicht gegenseitig behindern und schaden, jener Freiheit, ohne die ein demokratisches Zusammenleben nicht möglich ist?

Das ist aus der Freiheit geworden: die Freiheit, mit gelben Judensternen gegen Anti-Corona-Maßnahmen zu demonstrieren, die Freiheit, keine Masken zu tragen, die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen, die Freiheit, Corona zu leugnen, die Freihei, sich völlig unsolidarisch aufzuführen, die Freiheit, die schon verlogen im Parteinamen "Freiheitliche Partei Österreichs" oder in "MFG-Österreich" vorkommt, die neueste und skurrilste Freiheit, Corona-positiv ins Gasthaus zu gehen und dort zwar bestellen, aber nichts essen zu dürfen, weil man dazu ja die Maske abnehmen müsste.

Weit haben wir es gebracht: Klima, Inflation, Energie, Pandemie, Krieg – eine Krise jagt die andere und bedingt die andere, und wir werden vom Typus Politiker regiert, der nur mehr den heißen Atem der nächsten Umfrage, der nächsten Wahl im Nacken spürt und auch genau so handelt. Pfeif auf die Fakten! Pfeif auf die Bedenken! Pfeif auf den Diskurs! Nur die Abgebrühten kommen durch, nicht die Aufgeklärten. Eine grüne Umweltministerin, die rigoros gegen Tempo 100 auf der Autobahn ist, das ist alles bereits ganz normal bei uns in der schönen Alpenrepublik. Wenn du an der Macht bleiben willst, dann schau immer ganz genau, wo gerade die Mehrheit des Stimmviehs grast.

Und der Narr hört die Experten, denen die Politiker nicht mehr zuhören oder nicht mehr zuhören wollen, sagen: "Diese Entscheidung wurde gegen unsere Empfehlung getroffen. Es war eine politische Entscheidung." Und der Narr kombiniert: "Eine politische Entscheidung ist also das Gegenteil einer wissenschaftlich begründeten Entscheidung." Oder wie es der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach – zwar ein Politiker, aber offensichtlich doch auch ein Aufgeklärter – sagt: "Die Aufhebung der Isolationspflicht für Infizierte ist eine wissenschaftswidrige Position." (Harry Bergmann, 28.7.2022)