Lippenstift zu tragen kann noch immer darüber entscheiden, ob man in einer Straßenbahn verprügelt wird.

Foto: EPA / NARENDRA SHRESTHA

Eine Christopher-Street-Day-Veranstaltung im deutschen Münster vor wenigen Tagen: Ein 20-Jähriger beschimpft Frauen als "lesbische Huren", die sich "verpissen" sollen. Als ein 25-jähriger Transmann den beiden Frauen zu Hilfe kommen will und den Mann bittet, die Beleidigungen zu lassen, schlägt ihm dieser brutal ins Gesicht. Der 25-Jährige verliert das Bewusstsein und knallt mit dem Hinterkopf auf den Asphalt. Zwei Tage später, am 2. September, verstirbt er aufgrund des heftigen Angriffs.

Nur drei Tage später wurde eine Transfrau in einer Bremer Straßenbahn angegriffen, angefeuert von zehn bis 15 Teenagern, reißen ihr zwei Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren ihre Perücke vom Kopf, beleidigen sie und schlagen ihr schließlich mit Fäusten ins Gesicht. Die 57-Jährige musste mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus.

Angesichts dieser fürchterlichen queerfeindlichen Angriffe liest sich eine andere aktuelle Nachricht fast schon positiv, obwohl sie ebenfalls entlang einer beängstigenden Entwicklung stattfindet. Das Internet-Infrastruktur-Unternehmen Cloudflare vermeldete endlich, dass sie die Hassplattform Kiwi Farms blockiert. Die Mitglieder der Plattform haben sich insbesondere auf Hetze gegen Transpersonen, Frauen und queere Menschen konzentriert und terrorisierten sie mit aufwendigen Stalking-Aktionen. Das Forum wurde monatlich millionenfach aufgerufen. Inzwischen werden laut "Spiegel" mehrere Suizide mit den Hasskampagnen durch Kiwi Farms in Zusammenhang gebracht. Seit 3. September ist die Website nicht mehr erreichbar, sie könnte allerdings mit einem neuen Anbieter zurückkehren.

Bedrohte Mehrheitsgesellschaft?

Das alles ist nur die Spitze eines Hass-Eisberges gegen alles nicht Heteronormative. Es ist Hass gegen sämtliche noch so kleine Ausbrüche aus einer rigiden Gender-Norm. So banal es auch klingt, aber es ist unbändige Aggression gegen alles, was nicht als "normal", was als "unnatürlich" aufgefasst wird. Und das beileibe nicht nur von jenen, die zuschlagen, bedrohen und beschimpfen – sondern auch von großen Teilen der Gesellschaft. Als vor Jahrzehnten erstmals Lesben und Schwule gleiche Rechte einforderten, traf sie teils entfesselter Zorn. Inzwischen gibt es für sie mehr Akzeptanz und Gleichstellung, trotzdem ist dieser Hass noch da. Und schließlich kommt aktuell noch eine große Welle des Hasses gegenüber Transpersonen, intergeschlechtlichen oder nichtbinäre Menschen hinzu. Einfach nur, weil sie jene Rechte einfordern, die beispielsweise für weiße Hetero-Männer so selbstverständlich sind, dass sie sie kaum wahrnehmen– und sich trotzdem massiv bedroht fühlen, wenn andere dies auch für sich fordern.

Angesichts dieser jüngsten Gewalt müssen wir uns hinsichtlich der aktuellen Debatten um Rechte für Transpersonen unweigerlich fragen: Worüber reden wir eigentlich? Was sollen die aggressiven Diskussionen darüber, wie viele Rechte Transmenschen "zustehen", ob sie andere Rechte gefährden würden, andere diskriminierte Gruppen an den Rand drängen würden? Ob jeglicher Sinn und Bedeutung gleich flöten geht, wenn jemand mal von "menstruierenden Menschen" statt von Frauen spricht. Ob es sein darf, dass jemand selbst und ohne ärztliches Gutachten entscheiden darf, welches Gender er leben will. Ja, das alles sind Fragen, die geklärt werden müssen, die ausdiskutiert werden müssen. Doch es ist offenbar noch nicht gelungen, dies so zu tun, ohne Transmenschen, intergeschlechtliche oder homosexuelle Menschen als die zu Unrecht Fordernden, als eine störende Gruppe zu inszenieren.

Feinbilder verblassen lassen

Niemand kommt mit spezifischen Feindbildern im Kopf auf die Welt, sie sind ein soziales Gebilde. Die Jugendlichen in der Straßenbahn in Bremen, der 20-Jährige in Münster müssen erst mal auf die Idee kommen, dass sie da jemanden sehen, den sie mit einer gewissen Berechtigung hassen dürfen. Genau deshalb ist es so heikel, wie wir mit den genannten Fragen umgehen. Denn es ist dieser Umgang, der maßgeblich mitentscheidet, ob wir es schaffen, ein Feindbild verblassen zu lassen. Oder ob wir, wenngleich im höflichen Ton, aber nicht weniger chauvinistisch, es doch ganz gern weiter existieren lassen. Einfach nur, weil viele selbst vor den kleinsten gesellschaftlichen Veränderungen schon horrende Angst haben. Diese Angst schlägt oft in Hass und Aggression um und trifft sowohl Transpersonen als auch Frauen, insbesondere feministische, und queere Menschen. Diese überall zu beobachtende soziale Tatsache muss endlich ein fester solidarischer Anker werden. Doch derzeit scheint es hingegen oft so, als ob "gleiche Rechte" eine begrenzte Ressource wäre, von der wir entscheiden müssten, ob sie zum Beispiel entweder Frauen oder nichtbinären Menschen zustehen. Gleiche Rechte sind aber selbstredend für alle. Trotzdem bestreitet niemand, dass diese Debatten nicht einfach sind – mehr Respekt vor Minderheiten brauchen sie aber allemal. Denn das Fehlen von Respekt strahlt auf die Gesamtgesellschaft ab.

Sicher, man könnte – so wie es der "Spiegel" tat – fragen, was im Leben des 20-jährigen Täters schieflief, dass er einem anderen derart fest ins Gesicht schlug, dass dieser vermutlich durch den Aufprall auf dem Asphalt an einem schweren Schädel-Hirn-Trauma am Hinterkopf sterben musste. Allerdings müssen wir uns viel dringender die Frage stellen, warum wir offenbar noch immer jungen Leuten sehr klare Vorstellungen von Feinbildern vermitteln. Es gibt viele große Schrauben und viele sehr kleine Schräubchen, wie wir diese Vorstellungen aufrechterhalten. Kurz nachdenken, ob man sie bedient – das würde jedenfalls schon sehr viel helfen. (Beate Hausbichler, 7.9.2022)