Im Gastblog interpretiert Psychotherapeut und Psychoanalytiker Timo Storck die vierte Folge der Prequel-Serie zu "Game of Thrones" .

Spontaner Test: Wer weiß ohne großes Nachdenken, wer Rose DeWitt Bukater ist? Genau, die von Kate Winslet verkörperte Protagonistin aus dem 1997er-Film "Titanic". Da gibt es eine Szene, in der die, nun ja, prinzessinnenartige Rose von Jack (Leonardo DiCaprio) auf die Unterklassendecks des Schiffes geführt wird, wo Lebensfreude und Zügellosigkeit (und ein bisschen Häme gegenüber "denen da oben") herrschen. Die Sequenz führt dahin, dass Rose ihre Unschuld verliert. Ach so, und das Schiff geht dann ziemlich bald danach unter. Zufall?

Rhaenyra Targaryen, Prinzessin aus dem Hauses Targaryen, soll zwecks Thronfolge verheiratet werden.
Foto: Sky/HBO

In der vierten Episode von "House of the Dragon" wird Rhaenyra von ihrem Onkel Daemon aus dem Red Keep geschleust, in der Verkleidung eines Stallburschen, sodass sie auch mehrfach als "Boy" angesprochen wird. Daemon führt Rhaenyra zum gemeinen Volk, das unter anderem ein Theaterstück über die Thronfolge aufführt, bei dem die Prinzessin nicht gut wegkommt. Rhaenyra jedenfalls staunt und erfährt einen Kontrast zum tristen Leben im Schloss und den – auch für die Zusehenden inzwischen – ermüdenden Bachelorette-Präsentationen möglicher Heiratskandidaten, von denen sie einen auswählen soll. Statt Hochzeit also Tiefzeit. Denn Daemon führt sie auch räumlich weiter in die Tiefe, in ein Bordell, wo wir Männer und Frauen in verschiedenen Konstellationen miteinander intim werden sehen.

Sexuelle Tabus

"House of the Dragon" wäre nicht "House of the Dragon", wenn nicht – etwas plakativ? – sexuelle Tabus gebrochen würden. Daemon erläutert seiner Nichte, dass man seinen Ehepartner nicht lieben oder auch nur die Sexualität mit ihm oder ihr genießen müsse, man könne sich daneben aussuchen, nach wem einem ebenso sei. Dann beginnt er, Rhaenyra zu verführen, die sich dafür empfänglich zeigt (im Parallelschnitt sehen wir einen eher technischen Geschlechtsakt zwischen Viserys und Alicent, zu dem er sie in sein Schlafgemach bestellt hat), aber nach einer Weile zieht er sich von ihr zurück. Es bleibt unklar, ob das kalkuliert ist oder ob sich doch noch, für einen Targaryen gleichwohl ungewöhnlich, ein Anerkennen der Inzestschranke zeigt. Oder, anderer Gedanke: Hat die mehrfache Markierung seiner Begleitung als "Boy" etwas damit zu tun?

Im Gesamtnarrativ von "Game of Thrones" sind wir Inzest, Verstümmelungen, Vergewaltigungen oder sexuelle Beziehungen zu sehr, sehr jungen Menschen gewohnt. Natürlich kann man sagen, dass alles davon zur Realität des Mittelalters gehört oder dass im Haus Targaryen (oder in nicht wenigen Königshäusern überhaupt) nun mal Menschen verheiratet worden sind, auch wenn sie Verwandtschaftsgrade aufwiesen. Trotzdem: Unangenehm in der filmischen Darstellung bleibt alles davon. Auch hier bleibt abzuwarten, wie sehr es für die Gesamterzählung nötig ist, dass zwischendurch eine königliche Heirat zwischen Geschwistern (von denen einer zwei Jahre alt ist), sexuelle Handlungen zwischen Onkel und Nichte oder eine Heirat eines circa 60-jährigen Mannes mit einer Zwölfjährigen gezeigt oder in Erwägung gezogen werden.

Zärtlichkeit und Sexploitation

Rhaenyra eilt jedenfalls nach Hause, vorbei an ihrem – wie kann man sagen? – Schlafgemachwachposten (und damit Untergebenen) Criston Cole, den wiederum sie verführt. Wir sehen die ungewöhnlichste Sexszene in der Geschichte des "Game of Thrones"-Kosmos, nämlich eine, die so etwas wie Leidenschaft und Zärtlichkeit transportieren soll (und auch denjenigen von uns, die darüber bisher noch nicht nachgedacht hatten, zeigt, dass es gar nicht so leicht ist, einen Ritter zu entkleiden – you can leave your hat on!).

Der Akt wirkt aber auch irgendwie befremdlich, als wäre er eine Wiedergutmachung für all die Sexploitation-Szenen der Vergangenheit. Eine Ausnahme davon war übrigens die narrativ vergleichsweise elegante Szene zu Beginn einer Folge aus der ersten Staffel von "Game of Thrones", in der Littlefinger zwei Prostituierte in der Kunst vorgespielter Lust und Orgasmen unterweist – was später in der betreffenden Folge eine Entsprechung in seinem eigenen Vorspielen falscher Begehrlichkeiten findet. Nicht jede Sexszene hat sich als derart erzählerisch folgerichtig erwiesen.

Zumindest macht "House of the Dragon" hier etwas Wichtiges richtig: Am Set gibt es mittlerweile "intimacy coordinators", und die Episode ist sowohl von einer Frau geschrieben als auch von einer Regisseurin in Szene gesetzt worden. Beides ist in "Game of Thrones" nicht oder nur selten vorgekommen.

Es zählt, was die Leute glauben

Aber zurück zur Titanic. Rhaenyra und Daemon werden gesehen und erkannt (durch einen veritablen Master-of-Spies-Move von Otto Hightower, dem davon berichtet wird, auch unter der Supervision von Mysaria, der Frau, die von Daemon für seine Gespielin gehalten wird). Erst stellt Alicent ihre Schwiegerstiefbestefreundin zur Rede (Rhaenyra leugnet, dass sexuell etwas mit Daemon passiert ist, und von Criston Cole weiß erst mal noch niemand etwas), dann tut das Viserys. Er macht seiner Tochter klar, dass nicht entscheidend ist, was passiert ist, sondern was die Leute glauben, was passiert ist – und in dieser Hinsicht hat sie ihre Unschuld verloren (und so ganz traut er ihr auch nicht; Stichwort Abtreibungstee).

Er verordnet ihr daher die Hochzeit mit dem Sohn von Lord Corlys, der auf diese Weise in Richtung Königstreue in die Spur gebracht werden soll. Es bleibt abzuwarten, ob Viserys den Rivalen so an die Krone bindet oder ob er ihm nicht vielmehr eine machtvolle Verbündete zur Seite stellt. Rhaenyra jedenfalls macht deutlich, dass sie ihre heiratsstrategische Aufgabe als Prinzessin (und Thronfolgerin) erfüllen werde, sofern Viserys seine als König erfülle.

Viserys versucht sich in Demonstrationen von Stärke: Er stellt Daemon zur Rede (der mit dem Vorschlag um die Ecke kommt, er könnte doch Rhaenyras Ehemann werde – bald sind wirklich alle männlichen Figuren einmal dafür vorgeschlagen, worden und die ersten Zuschauerinnen und Zuschauer dürften auf ihrer Ehekandidaten-Bingo-Karte eine vollständige Reihe gekreuzt haben ...). Er verheiratet seine Tochter und enthebt Otto Hightower, dessen Absichten der eigenen Machtsicherung er nun erkennt, von seiner Aufgabe als Hand des Königs.

Trotzdem bleibt der Eindruck, dass es andere als er sind, die sich in strategische Positionen bringen und durch Verführung und Verführtwerden ihre Macht sichern. Denn: Daemon erscheint insgesamt gereifter und erweckt den Eindruck, überlegter statt immer nur hitzköpfig (oder hitzgliedrig) zu handeln. Es würde nicht wundern, wenn er das Erkanntwerden im Bordell eingeplant hat, immerhin zieht er sich und Rhaenyra die Mütze beziehungsweise Kapuze vom Kopf, bevor sie eintreten. Die Verführungsszene setzt etwas in Gang, das ihm mehr nutzen könnte als allen anderen. Wenn der Eisberg kommt, wird der "King of the Narrow Sea" bereit sein.

Ausblick

Worauf können wir gespannt sein? Vor allem natürlich darauf, wer die neue Hand des Königs wird. Und weiterhin: Wann kommt der nächste Zeitsprung? Wird Rhaenyras Hochzeit wirklich Viserys' Position stärken oder nicht vielmehr die von Lord Corlys? Wann wird Aegon schulpflichtig? (Timo Storck, 13.9.2022)