Im Gastkommentar sagt der frühere Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad, Simon Ilse, dass die Union Desinformation bekämpfen und Ernst machen muss mit Serbiens EU-Beitritt.

Protest gegen die Europride vor einer orthodoxen Kirche am Wochenende in Belgrad.
Fotos: APA / AFP / Andrej Isakovic
Pride-Aktivistinnen und -Aktivisten. An queere Partystimmung war nicht zu denken.
Fotos: APA / AFP / Andrej Isakovic

Im April dieses Jahres, sechs Wochen nach der russischen Invasion in der Ukraine, erschien in der "New York Times" ein Meinungsartikel über das Ende der Globalisierung wie wir sie kennen, und den Beginn eines weltweiten Kulturkampfs. Der Kolumnist David Brooks beschreibt damit die Auseinandersetzung zwischen autoritären und demokratischen Systemen, illiberalen versus liberalen Regierungen, Nationalisten gegen Internationalisten; allerdings nicht unbedingt zwischen Nationen, sondern innerhalb von Gesellschaften. Die paneuropäische Veranstaltung für LGBTQI-Rechte, Europride, in Belgrad am letzten Wochenende war Schauplatz, ja Kristallisationspunkt dessen.

Laut Brooks ist das derzeitige Auseinanderdriften der Welt in verschiedene Blöcke etwas anderes als im Kalten Krieg: Es geht nicht nur um einen politisch-ökonomischen Konflikt, vielmehr spielen Kultur, Moral, Psychologie, Religion und Politik alle parallel eine entscheidende Rolle. Ein Konflikt zwischen dem westlichen Verständnis der individuellen, menschlichen Würde auf der einen, und gemeinschaftlicher Kohäsion und Tradition auf der anderen Seite. Michael Zürn, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, würde sagen, zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen. Europäische Nationalisten – in Serbien wie anderswo – empfinden LGBTQI-Rechte heute als Bedrohung ihrer Kultur und Religion. Sie weisen Gleichberechtigung und Universalität der Menschenrechte als westliches Konstrukt zurück.

VIDEO: In der serbischen Hauptstadt wurde die Europride-Parade trotz eines Verbots der Regierung abgehalten. Gegendemonstrationen der Ultrarechten und -orthodoxen wurden ebenfalls untersagt, diese ließen sich aber auch nicht von ihrer Kundgebung abhalten.

DER STANDARD

Unsicherheit und Angst

Es gibt nichts zu beschönigen: Die diesjährige Europride war ein Desaster. Anstelle einer positiven, offenen, gut organisierten Woche des EU-Beitrittskandidaten Serbien herrschte spätestens seit der öffentlichen Absage der Pride durch den Präsidenten Ende August das Gegenteil: Unsicherheit und Angst. In den Wochen darauf war der erniedrigende Höhepunkt, als die offen lesbische Premierministerin Serbiens, Ana Brnabić, selbst das vorgeschobene Sicherheitsargument der Regierung verteidigen musste. Dass der Europride-Umzug letztlich auf einer verkürzten Route als Hochsicherheitsevent stattfinden konnte, kann kaum als Erfolg gelten.

Muss man also zu dem Schluss kommen, dass die EU und Serbien einfach kulturell zu weit auseinanderliegen und nicht zusammenpassen? Wohl kaum. Was in Serbien unter Präsident Aleksandar Vučić passiert, ist, die kulturellen und religiösen Unterschiede scharfzustellen, sie sozusagen als Waffe einzusetzen, um den eigenen Machterhalt zu sichern. Serbien, das ethnisch-religiös sehr homogen ist, ist eine in der Weltanschauung extrem polarisierte Gesellschaft. Hinzugemischt wird eine alte serbische Figur der Psychologie: die Serben als Opfer. Dazu kommt das Gefühl, nicht gleichberechtigt zu sein, und die Gabe, Verantwortung auf äußere Akteure und Umstände abzuwälzen.

"Menschen in Serbien möchten letztendlich respektiert werden und ihren Platz in der Gesellschaft und Europa finden."

Aber wie gewinnt man den derzeitigen Kulturkampf, wie kommt man wieder zueinander? Die alten Männer, die sich letzte Woche im Schanghai-Kooperationsrat in Samarkand trafen, haben die Antwort nicht.

Zwei Antworten als Vorschlag: Menschen in Serbien möchten letztendlich respektiert werden und ihren Platz in der Gesellschaft und Europa finden, sich zugehörig fühlen. Normale kulturelle Unterschiede zu verschärfen und anzuheizen benutzt sie nur, löst aber ihr Problem nicht. Das eingeübte Spiel der EU, Präsident Vučić als Vermittler zwischen den Polen anzuerkennen, entlässt ihn letztlich aus der politischen Verantwortung für sein Handeln. Es akzeptiert ihn als Manager einer vermeintlich schwierigen Gesellschaft und negiert das Politische dieser Strategie. Damit muss Schluss sein.

Teil der EVP?

Die EU sollte also erstens ein für alle Mal anerkennen, dass mit Vučić kein Europa zu machen ist, und sich nach Alternativen umsehen. (Daran sollte auch die Entscheidung, EU-Sanktionen gegen Russland mitzutragen, nichts ändern.) Wichtige Mitglieder der Europäischen Volkspartei (EVP) wie die deutsche CDU und die ÖVP sollten sich fragen, ob Vučićs Fortschrittspartei SNS nicht schon lange dorthin gehört, wo die Fidesz-Partei des ungarischen Premierministers Viktor Orbán seit März 2021 ist: ausgeschlossen. Damit einhergehen würde, dass kein deutsches Steuergeld mehr über die Konrad-Adenauer-Stiftung an eine Partei gehen würde, in der Proeuropäer schon lange nichts mehr zu sagen haben.

Zweitens sollte die EU die Hintergründe und Wurzeln des fruchtbaren Bodens, auf dem Populisten wie Vučić gedeihen, verstehen lernen und adressieren. Soll heißen, endlich den Kampf gegen die enorme Desinformation in Serbien aufnehmen und Ernst machen mit dem EU-Beitritt, anstatt den Westbalkan als Billigproduktionsregion auszunutzen.

"Für den Versuch, Würde, Menschenrechte und demokratische Mitsprache ständig auszuweiten, lohnt es sich, einzutreten und zu kämpfen."

Das europäische Modell und der EU-Erweiterungsprozess sind weit entfernt davon, ideal zu sein. Aber für den Versuch, Würde, Menschenrechte und demokratische Mitsprache ständig auszuweiten, lohnt es sich, einzutreten und zu kämpfen. Die Europride in Belgrad war ein Weckruf, dass wir im Angesicht eines weltweiten Kulturkampfes darin dringend besser werden müssen. (Simon Ilse, 20.9.2022)