Sozioökonom Andreas Novy schreibt in seinem Gastkommentar über die kommende Wahl in Brasilien und wie die politische Landschaft im Land aussieht.

Kommenden Sonntag sind Wahlen in Brasilien. Vermutlich die wichtigsten seit dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er-Jahren. Gelingt Präsident Jair Bolsonaro die Wiederwahl, setzen sich nicht nur Kahlschlag und geduldeter Genozid an der indigenen Bevölkerung im Amazonas fort, auch die liberale Demokratie im größten Land Lateinamerikas wäre gefährdet. Es drohen türkische Zustände, das heißt, eine neue Form elektoraler Demokratie, die Opposition und freie Justiz so weitgehend beschränkt, dass die Abwahl der Regierenden kaum möglich ist.

Am Sonntag wird in Brasilien gewählt: Kommt der Umbruch? Oder schafft Präsident Bolsonaro doch die Wiederwahl?
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Doch ist anzunehmen, dass dieses Szenario nicht eintreten wird, denn bei dieser Wahl ist sein Gegenkandidat der ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Als dieser 2010 nach zwei Amtszeiten abtrat, lag sein Beliebtheitswert bei fast 80 Prozent. Die Arbeitslosigkeit war niedrig, der Mindestlohn stieg, die Zahl der Universitäten und die der Uniabsolventen verdoppelte sich. Befürworter seiner Politik sehen dies als Beweis, dass gute Sozial- und Wirtschaftspolitik vereinbar sind, Kritiker erklären dies mit der bis 2008 guten Lage der Weltwirtschaft, allen voran hohen Rohstoffpreisen.

Hoffen auf Aufschwung

Tatsache ist, dass sich heute, nach acht Jahren Wirtschaftskrise, viele von einem Regierungswechsel einen erneuten Aufschwung erhoffen. So könnte Lula zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt werden. Lulas sozialpartnerschaftliches Programm wird verkörpert von seinem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft: Geraldo Alckmin ist ein erfolgreicher konservativer Politiker, der Lula 2006 in der Stichwahl unterlag. Er ist nicht der einzige ehemalige Gegner, der Lula nun unterstützt: Weil Bolsonaro konsequent und unverhohlen an der Zerstörung von Rechtsstaat und öffentlichen Institutionen arbeitet, gelang ein breites demokratisches Bündnis.

Vergangene Woche erklärten sieben frühere Präsidentschaftskandidaten ihre Unterstützung für Lula. Darunter auch Marina da Silva, die bis 2008 Lulas Umweltministerin war, diesen Posten aus Protest gegen dessen wenig ambitionierte Umweltpolitik zurücklegte und bei der folgenden Wahl selber kandidierte. Sie präsentierte mit ihm zusammen ein Paket für Klima- und Umweltschutz. Das kann als Signal gelesen werden, aus früheren Fehlern gelernt zu haben.

Schon vor dem Wahltag sind die klaren Verlierer jene konservativen Politiker und Parteien, die 2016 das Impeachment gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff organisierten. Sie schufen ein Klima der Irrationalität, das den Aufstieg des rechtsextremen Bolsonaros erst ermöglichte. 2018 verloren die Konservativen die Dominanz im rechten Lager Brasiliens. Stattdessen stimmten allen voran die Gebildeten mit großer Mehrheit für einen Kandidaten, der deklariertermaßen lieber einen toten als einen homosexuellen Sohn hätte und der einen Bildungsminister ernannte, der Darwins Evolutionstheorie aus den Schulbüchern verdrängt. Es folgte die Ernüchterung: Paramilitärische Milizen machten sich breit, 6000 Militärs nahmen in Führungspositionen der Verwaltung Platz, die neoliberalen Kürzungsprogramme führten zu einer tiefen Wirtschaftskrise und explodierenden Staatsschulden.

Absolute Mehrheit?

Heute haben sich Teile der Neoliberalen und größere Teile der Gebildeten von Bolsonaro abgewandt. Bolsonaros Unterstützer sind heute vor allem die Gutverdienenden, die christlichen Fundamentalisten und das Agrobusiness. Das wird vermutlich diesmal nicht reichen. In allen Umfragen führt Lula.

Unklar ist, ob er schon im ersten Wahldurchgang die absolute Mehrheit erzielen wird. Und unklar ist auch, ob Bolsonaro die Wahlniederlage akzeptiert. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump ist auch hier sein Vorbild.

So ist das Land gespalten: Ganze 40 Prozent würden Lula heute unter keinen Umständen wählen. Brasilien braucht daher nicht nur einen grundlegenden Wandel, sondern auch eine Politik, die Gräben überwindet. Vermutlich wird auch die dritte Amtszeit Lulas von Kompromissen gekennzeichnet sein: Kleine, aber wichtige Änderungen wird er als Präsident rasch umsetzen können, sei es im Kampf gegen Hunger und Armut oder im Vorgehen gegen Abholzung und Rodungen im Amazonas.

Die langfristige Aufgabe ist aber ungleich schwieriger: endlich das unselige Erbe der Sklavenhaltergesellschaft abzulegen und die Armen zu Teilhabenden des Gemeinwesens und des Wirtschaftens zu machen. Es braucht langfristige Investitionen in Bildung, Gesundheit und Klimaschutz, Weichen hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft sowie zur Stärkung der Behörden, die indigene Rechte sichern.

Auch außenpolitisch warten große Aufgaben. Strebte Brasilien bis 2010 danach, mit Initiativen wie den Staatenverbund BRICS und den G20 den Globalen Süden zu einem gleichberechtigten Partner auf dem internationalen Parkett zu machen, so sind viele Länder des Globalen Südens heute gleichermaßen selbstbewusster und autoritärer. Gleichzeitig hat der Westen mit allzu viel nichteingelösten Versprechen – sei es bei der Klimafinanzierung oder der Pandemiebekämpfung – vor allem in Afrika viel Kredit verspielt. Lula könnte hier wieder eine Rolle als Brückenbauer spielen. (Andreas Novy, 28.9.2022)