Nika hat Angehörige in Russland und der Ukraine. Nach Moskau fährt die Filmstudentin derzeit nicht, als Zeichen gegen die Normalisierung des Krieges.

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Universitäten sind oft ein Dreh- und Angelpunkt von intellektueller Opposition und politischem Aktivismus. Allerdings wird in Russland der Protest gegen das Regime auch für Studierende immer schwieriger. Vor allem seit Kriegsbeginn drohen massive Repressionen, ein offener Diskurs findet kaum statt. Auch deshalb suchen immer mehr Studierende das Weite und wechseln an Hochschulen im Ausland. Die jüngst verordnete Teilmobilisierung dürfte diese Entwicklung bei jungen Männern noch einmal verstärkt haben, wobei es dazu noch keine aktuellen Daten gibt.

In Österreich beträgt die Zahl der russischen Studierenden etwa 1500, das sind rund 0,5 Prozent. Freilich: Nicht alle von ihnen haben ihr Land als Dissidenten verlassen, es gibt auch profanere Motive, um einige Semester im Ausland zu verbringen. Doch wie geht es jenen, die die Politik des Kreml verurteilen, sich nun aber als Angehörige einer kriegführenden Nation in Österreich wiederfinden? DER STANDARD hat mit drei russischen Studentinnen über ihre komplizierte Situation gesprochen.

Übersetzen für Flüchtlinge

"Im März hatte ich einen Schock und wusste nicht, was ich tun kann. Deshalb wollte ich mich engagieren, weil es auch mir geholfen hat, besser mit der Situation umgehen zu können", sagt Alewtina. Die 27-Jährige ist in Moskau aufgewachsen und studiert seit drei Jahren an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Sie hat sich kurz nach der Aggression Russlands als freiwillige Übersetzerin gemeldet, um geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen. Anfangs sei es ihr schwergefallen, anderen Helfern zu sagen, dass sie selbst aus der russischen Hauptstadt stamme, erinnert sich Alewtina. In einer Telegram-Gruppe, in der sie sich mit gleichgesinnten Landsleuten vernetzt habe, die sich ebenfalls für Kriegsflüchtlinge einsetzen, habe man sich aber gegenseitig Mut gemacht.

Die Kunststudentin hält die Sanktionen gegen das Putin-Regime für notwendig, zugleich wird sie selbst von ihnen belastet, weil die finanzielle Unterstützung aus der Heimat nun doppelt schwierig ist. Zum einen aufgrund der wirtschaftlichen Rezession in Russland, zum anderen, weil über Banken keine Gelder mehr aus Russland in die EU überwiesen werden können. Die ÖH hat anlässlich des Ukraine-Kriegs bereits im März einen Topf für Soforthilfe eingerichtet, aus dem ukrainische und russische Studierende in sozialen Notlagen bis zu 1000 Euro bekommen können. Zudem sind einige Familien mittlerweile auf Transfers mit Kryptowährungen umgestiegen, wie bei der Recherche zu erfahren war.

Die Rücksicht auf in der Heimat lebende Angehörige stürzt jedoch auch einige in ein Dilemma. Sie befürchten, dass selbst Äußerungen im Ausland womöglich in Russland registriert und dort zu negativen Konsequenzen für die Familie führen könnten. Andererseits wollen sie in Österreich keinesfalls als Vertreterinnen des russischen Staates wahrgenommen werden.

Gefährliche Stereotype

Für Anna, die eigentlich anders heißt, ist die Situation besonders vertrackt. Die Absolventin einer renommierten Moskauer Kunsthochschule, die jetzt in Wien Malerei studiert, gehört einer kleinen ethnischen Minderheit an. Innerhalb Russlands leidet diese Gruppe unter Alltagsrassismus und Diskriminierung, das macht öffentliche Kritik potenziell gefährlicher. Hierzulande fällt dieser Aspekt aber leicht unter den Tisch, erzählt sie: "In Russland wird mir vorgeworfen, keine echte Russin zu sein, und in Österreich wird mir vorgehalten, dass ich Russin bin."

Das sei zwar durchaus verständlich, allerdings müsse man bedenken, wie in Russland angesichts der Kriegsverbrechen der eigenen Armee nun rassistische Stereotype reproduziert würden. So gebe es in der ethnisch russischen Mehrheitsbevölkerung mitunter das Vorurteil, wonach die Massaker der eigenen Armee nur von Mitgliedern "wilder Minderheiten" ausgeübt würden, aus deren Gebieten verstärkt Soldaten rekrutiert würden. In Annas Augen müsse es bei der Opposition gegen das Putin-Regime darum gehen, den Krieg gegen die Ukraine sowie die Unterdrückung von Minderheiten im eigenen Land zu beenden, weil beide Vorgänge in den rassistischen Zügen der russischen Kultur wurzelten.

Normalität oder Bunker

Sowohl russische als auch ukrainische Wurzeln finden sich in der Biografie von Nika, die an der Uni Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaften studiert. Sie hat Familienteile in beiden Ländern, ein typisches Beispiel dafür, wie eng die Gesellschaften verwoben sind. "Ich bin russische Staatsbürgerin, habe aber jeden Sommer bis 2013 bei meiner Großmutter in Mariupol verbracht", sagt die 27-Jährige. "Ich leide somit sehr stark unter der jetzigen Situation. Ich muss beobachten, wie die Orte der Erinnerungen meiner Kindheit in der Ukraine zerstört werden."

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Sie spüre eine gewisse Ohnmacht, wenn sie darüber nachdenke, dass "Teile der Familie in Moskau relativ normal weiterleben, während andere Freunde in Mariupol wochenlang im Bunker verharren müssen". Ein Teil des Protests müsse daher darin bestehen, der gefühlten Normalisierung des Krieges in Russland entgegenzuwirken und darauf hinzuweisen, dass das Handeln der Regierung alle Menschen betreffe und etwas angehe. Mit diesem Ziel erklärt Nika auch eine persönliche Konsequenz, die sie selbst diesen Sommer aus den Geschehnissen zog. Anstatt wie üblich nach Moskau zu reisen, mied sie russischen Boden und blieb – weit weg von ihrer Familie – in Wien. (Mark Napadenski, 7.10.2022)