In den Kaukasusrepubliken Armenien und Aserbaidschan sind im September erneut Kämpfe ausgebrochen, die USA vermittelten eine Waffenruhe. Im Gastkommentar fragt die Juristin Arlette Zakarian: Hat die Welt aus der tragischen Geschichte des armenischen Volkes gelernt?

286 Menschen wurden bei den jüngsten Kämpfen getötet.
Foto: AFP / Karen Minasyan

Der jüngste Großangriff Aserbaidschans stellt eine neue Schwelle in der Eskalation und den expansionistischen Ambitionen Aserbaidschans dar, während die Armenier noch immer um die 4.500 Opfer des Krieges in Bergkarabach von 2020 trauern. Diese groß angelegte Aggression auf die ländlichen Grenzregionen Armeniens hat nicht nur hunderte Opfer gefordert, sie ist unbestreitbar auch eine Invasion einer souveränen Nation unter Verletzung des Völkerrechts. Um es mit den Worten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auszudrücken: "Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev hat erneut eine rote Linie überschritten, indem er Armenien auf seinem souveränen Boden angegriffen und somit dessen territoriale Integrität verletzt hat."

Das ohrenbetäubende Schweigen der Nationen, vor allem der Europäischen Union, kommt allen Despoten und Tyrannen dieser Welt zupass. Es ist das Zeichen dafür, dass Konflikte durch Waffengewalt gelöst werden, nicht durch die Macht der Verhandlungen.

"Mut und Solidarität"

In ihrer Rede zur Lage der Union vom 14. September 2022 versicherte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den europäischen Bürgerinnen und Bürgern, dass der Aggressionskrieg Russland gegen die Ukraine, "nicht nur ein Krieg ist, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat. Es ist ein Krieg um unsere Energie, ein Krieg um unsere Wirtschaft, ein Krieg um unsere Werte und ein Krieg um unsere Zukunft. Hier geht es um Autokratie gegen Demokratie. Und ich stehe hier mit der Überzeugung, dass Putin mit Mut und Solidarität scheitern und Europa siegen wird."

Dem ist leider nicht so: Dank der Ächtung Wladimir Putins ist Präsident Aliyew heute ein gefragter Mann. Die Gaslieferungen Aserbaidschans werden benötigt, um die anhaltende Energienachfrage Europas zu decken.

Doppelte Standards

Tatsächlich hat die Kommissionspräsidentin im Juli letzten Jahres mit Herrn Aliyew eine Absichtserklärung zur Erhöhung der Gaslieferungen geschlossen. Das ist nicht nur eine schreckliche Politik der doppelten Standards. Nach dem Entwurf der europäischen Lieferkettensorgfaltspflichtendirektive ist es Unternehmen untersagt, Geschäfte mit Lieferanten oder Subunternehmern zu machen, die gegen Menschen- oder Umweltrechte verstoßen. Mit diesem Vertragsabschluss bringt die Kommissionspräsidentin alle europäischen Staaten in die Situation, gegen eben dieses Kardinalprinzip zu verstoßen.

Die Europäische Union entsendet nun eine "zivile Mission" nach Armenien, um bei der Festlegung der Grenzen zu Aserbaidschan zu helfen. Wird das reichen? Hat die Welt aus der tragischen Geschichte des armenischen Volkes gelernt? Ist sich die internationale Gemeinschaft der Bedrohung bewusst, die auf jeder Nation lastet, die es wagt, ihren Willen zu bekunden, in Frieden und Demokratie zu leben, ohne den benachbarten Tyranneien die Treue zu schwören? Die Unterstützung und der Schutz der aufgeklärten Länder darf nicht selektiv gewährt werden. Das armenische Volk darf keines zweiter Klasse sein, das aufgrund der wirtschaftlichen Interessen der Europäischen Union zum Opfer fällt. (Arlette Zakarian, 7.10.2022)