Die neue Ikone des langen Männerhaupthaars in der deutschen Fernsehlandschaft: Richard David Precht.
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Als Mitte der Nullerjahre Thomas Gottschalks Goldlocken allmählich ergrauten, ehe sie schließlich ganz vom Bildschirm verschwanden, hatte die deutsche Fernsehlandschaft, wie aus dem Nichts kommend, ein Substitut parat: Die neue Ikone des langen Männerhaupthaars hieß Richard David Precht. Der Mann Anfang 40 trug Sechstagebart, legere, gut sitzende Anzüge und wurde in Talkshows als "schönster Philosoph Deutschlands" vorgestellt. Er sprach ruhig und deutlich, vor allem allgemein verständlich, und setzte dem Klischee vom steifen deutschen Meisterdenker ein Image entgegen, das zwischen engagiertem Seelsorger und Bohèmien französischen Zuschnitts wandelte: umfassend gebildet, aber nicht abgehoben, leicht verwegen und doch bürgerlich genug.

Das Buch, das Precht damals schlagartig berühmt machte, hieß Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?, erschien im Goldmann-Verlag (Penguin Random House) und verpackte anhand der Fragen "Was kann ich wissen?", "Was soll ich tun?", "Was darf ich hoffen?" Philosophie, Psychologie und Neurobiologie in niederschwelliger Ratgeberliteratur. Die Kritiken waren mehrheitlich gut, das Buch dominierte 2007 und 2008 sechzehn Wochen lang die Spiegel-Bestsellerliste (Rekord). Dieses und alle nachfolgenden Bücher verkauften sich millionenfach und wurden in 40 Sprachen übersetzt. Precht hielt Vorträge bei Events und Firmen, Talkshows rissen sich um ihn.

Zerrüttete Verhältnisse

2022 hat der mittlerweile zum Inventar gehörende Denker gerade wieder ein Buch veröffentlicht. Es heißt Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist (Fischer-Verlag), wurde zusammen mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer verfasst und setzt sich kritisch mit den Mechanismen des Medienbetriebs auseinander. Damit saß Precht zuletzt auch wieder in einer Talkshow, bei Markus Lanz, mit dem ihn mittlerweile eine Freundschaft verbindet. Die Leichtigkeit aber, das betont Verbindliche, Sachliche, mitunter Kalmierende, das Prechts Auftritte früher auszeichnete, war unverkennbarer Verbitterung gewichen. In der Auseinandersetzung mit Vertreterinnen der Medien Der Spiegel und Die Welt trat die Entfremdung klar zutage.

Wer sich mit Prechts Rezeption genauer befasst, bemerkt: Als öffentlicher Denker war er von Anfang an Liebling, aber auch willkommene Zielscheibe vieler Medien. Eine Flüchtlingskrise, eine Pandemie und ein Ukraine-Krieg später hat sich dieses Verhältnis zu einer mittelschweren Zerrüttung ausgewachsen. Ein Interview für dieses Porträt lehnte Prechts Pressestelle "aus Zeitgründen" ab. Wer mehr über den privaten Menschen, seine Vita und Beweggründe erfahren will, ist aber auch mit zweistündigen Podcasts wie Hotel Matze auf Youtube gut bedient. Wer also ist Richard David Precht noch einmal, und wenn ja, wie viele?

Faible für originelle Haustiere

Der 1964 im deutschen Solingen (Nordrhein-Westfalen) Geborene wuchs im links alternativen Milieu auf. Seine Eltern sympathisierten mit der Kommunistischen Partei, waren Spät-68er, aber keine Dogmatiker. Der Vater war Industriedesigner bei Krups, die Mutter Sozialarbeiterin und Feministin. Coca-Cola und amerikanisches Fernsehen waren geächtet, dafür wurde viel gelesen. An die 3000 Bücher habe es in seinem Elternhaus gegeben. Sie waren Precht lieber als der Schulstoff. In Deutsch sei er über die Note Drei kaum hinausgekommen, seinen schlechten Erfahrungen mit uninspirierten Lehrkräften und den "falschen" Lehrplänen wird Precht später in seiner Kritik des Bildungssystems nachspüren. Bis heute diskutiert er gerne über den aus seiner Sicht unzeitgemäßen Literaturkanon: "Feridoun Zaimoglu statt Max Frisch."

Precht wuchs mit vier Geschwistern auf, zwei wurden von seinen Eltern aus Vietnam adoptiert, aus Protest gegen die US-Beteiligung am Vietnamkrieg. Pazifismus und Umweltschutz wurden großgeschrieben. Biologie hätte den jungen Precht interessiert, aber auch das hätten ihm die Lehrer vermiest, sagt er. Heute zeugen davon seine ausgeprägte Haltung in Tierethikfragen und sein Faible für originelle Haustiere: Aquariumfische oder antiquierte Vogelpräparate, die er um viel Geld ersteigert und eigenhändig restauriert. Altes aufzunehmen und neu zu lackieren – so wird auch seine publizistische Methode erklärt.

Bestseller per Zufall

In Köln studierte Precht Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik. In letzterer Disziplin machte er 1994 seinen Doktortitel mit einer Arbeit über Robert Musil. Das Studium habe er sich selbst finanziert, unter anderem in der Zuckerfabrik bei Haribo (für die Thomas Gottschalk werbewirksam die Gold locken schüttelte). Precht studierte mit Bestnoten, wollte in der Wissenschaft bleiben, doch ihm fehlten die Unterstützer. Der erste Professor emeritierte, der zweite habe aus Gendergründen eine Frau vorgezogen, die heute als Deutschlehrerin arbeite. Precht setzte alles auf eine Karte und schrieb den Roman Die Kosmonauten – bis heute sagt er: sein "bestes Buch". Stilistisches Vorbild war Siegfried Krakauer, er habe damals nur eine halbe Seite pro Tag geschrieben, gefeilt und geschliffen, heute schreibe er hingegen fünf Seiten am Tag.

Es erschienen zwei schlechte Kritiken, danach war das Buch "tot". Da habe er "Angst bekommen, mit Talenten geboren zu sein, für die es keine Verwendung gibt". Den Durchbruch mit Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? verdanke er, wie er selbst sagt, der Literaturkritikerin Elke Heidenreich, die das Buch in ihrer ZDF-Sendung mit den Worten empfahl: "Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie glücklich." Erfolg, sagt Precht, habe nichts mit Leistung zu tun. Eher mit Zufällen.

Es folgte Bestseller auf Bestseller: über die Liebe, damals war der Vater eines Sohnes mit einer luxemburgischen RTL-Journalistin verheiratet; über Egoismus, das Buch erschien pünktlich zur Finanzkrise; über die Digitalisierung, an die Precht sein vehementes Eintreten für ein bedingungsloses Grundeinkommen knüpft; oder eine auf vier Bände angelegte Geschichte der abendländischen Philosophie.

Kritik an Feuilletons

Mit der gestiegenen Präsenz auf den TV-Bildschirmen, seit 2012 auch mit der eigenen ZDF-Sendung Precht, mehrten sich jene Stimmen, die in ihm wenig mehr als einen guten Geschäftsmann sehen wollten. "Die Philosophie, von der gesagt wird, Precht sei einer ihrer Vertreter, kennt ihn nicht. Er hat eine unredigierte Meinung zu allem, das genügt. Die Qualitätskontrolle beschränkt sich auf die Einladung", urteilte zuletzt die Frankfurter Allgemeine Zeitung, bei der er nie gut wegkam.

"Überall in den Feuilletons gibt es Leute, die sich wünschten, es gäbe mich nicht. Nur haben die Feuilletons keine Bedeutung mehr", sagt Precht und fügt gleich an, er könne es psychologisch verstehen, dass man einem, der selbst aus dem Feuilletonbereich kam, den Erfolg nicht gönne. Arrogant sei er jedenfalls nicht, im Fernsehen bekomme er beim Konzentrieren nur oft eine tiefe Stirnfalte, die ihm negativ ausgelegt werde. Und die Eitelkeit? Wenn seine Frau ihm rate, er solle seine Haare abschneiden, würde er es tun, sagt er.

Fremdeln mit dem Mainstream

Die meisten Debattensendungen lehnt Precht aufgrund ihrer zu kurzatmigen Machart, bei der kein Gespräch entstehe, mittlerweile ab. Einzig zu Markus Lanz, seit der Pandemie sein Podcastpartner, geht er noch. Sein nunmehriges Hadern mit den Medien mag auf individueller Ebene durchaus mit Kränkungen zu tun haben. Neidreflexe in den Feuilletons und in einem Wissenschaftsbetrieb, der es im Gegensatz zum angelsächsischen Raum kaum versteht, sich am populären Buchmarkt zu behaupten, prägen wohl die Gegenseite.

Es gibt aber auch handfestere Gründe. In der Pandemie schrieb Precht nicht nur ein Buch über die Pflichten als Staatsbürger, sondern trat auch klar gegen eine Impfpflicht auf. Die FAZ etwa rückte ihn unter anderem deswegen in die Nähe des "Querdenkertums". Sein Eintreten gegen seiner Meinung nach der Eskalation zuträgliche Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg – angesichts seiner Sozialisierung im Antivietnamkriegsmilieu vielleicht verständlich – flog ihm ebenfalls medial um die Ohren.

Im vielfach reflexhaft abgelehnten Buch Die vierte Gewalt wollen Precht und Welzer die Medien vor dem "Lügenpressevorwurf" dezidiert in Schutz nehmen. Und doch auch auf diskussionswürdige Missstände hinweisen: die Tendenz zu einseitiger Berichterstattung, die Gier nach Quote und Klicks, nach Zuspitzung und nach Personalisierung. Von Letzterer hat Precht selbst gut profitiert. Das weiß er und findet es trotzdem falsch. Erkenne dich selbst heißt eines seiner Bücher – ein Ursatz der Philosophie, der schließlich für alle gilt. Für Precht wie für die Medien. (Stefan Weiss, 9.10.2022)