Nach Jahrzehnten der Steuersenkungen und Deregulierung ist die britische Volkswirtschaft noch immer weniger produktiv als vergleichbare andere. Lösungsansätze aus der Ära von Margaret Thatcher werden daran nichts ändern, sagt die Cambridge-Professorin Diane Coyle im Gastkommentar.

Premierministerin Liz Truss setzt auf Wachstum. Doch ihre Wirtschaftspläne für das Vereinigte Königreich sind umstritten.
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Welche Rolle sollten die Regierungen in industrialisierten Marktwirtschaften spielen? Dies ist die grundlegende Frage, die sich nach dem ökonomischen Debakel in Großbritannien stellt. Bis jetzt ging es hauptsächlich um die desaströse makroökonomische Einschätzung der Premierministerin Liz Truss – und die völlig verständliche Reaktion der Finanzmärkte auf ihren Haushaltsplan. Aber in einer Sache haben Truss und ihr Finanzminister Kwasi Kwarteng recht: Das britische Kernproblem besteht darin, dass das langfristige Wachstum zum Stillstand gekommen ist.

Truss' und Kwartengs Diagnose der wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens würde wohl niemand widersprechen. Durch die momentane Häufung globaler Krisen wurden die chronisch niedrige Wachstumsrate und die stockende Produktivität des Landes deutlich. Aber die Lösung der beiden – die Steuern der Reichen zu senken und wirtschaftliche Regulierungen abzubauen, um damit Innovationen und Investitionen zu entfesseln – kam überhaupt nicht gut an. Sogar die kaum als Linke bekannten Händler an den Finanzmärkten glauben nicht an Truss’ Vision eines Hayek’schen Utopia des 21. Jahrhunderts.

Wenig produktiv

Im Wettkampf um die Nachfolge von Boris Johnson präsentierte sie sich als Nachfolgerin Margaret Thatchers. Aber im Gegensatz zur Eisernen Lady, die 1979 von der Bevölkerung gewählt wurde und über reichlich politisches Kapital verfügte, wurde Truss Premierministerin, indem sie gerade einmal 81.326 Mitglieder ihrer eigenen Partei für sich gewann – nur 21.000 Stimmen mehr als ihr Gegner Rishi Sunak. Die britische Öffentlichkeit blieb dabei außen vor.

Außerdem regierte Thatcher über ein ganz anderes wirtschaftliches Umfeld. Damals war die Wirtschaft höchst ineffizient und ziemlich hoch besteuert, während sie heute bereits ein relativ niedriges Steuer- und Regulierungsniveau aufweist, das den Politikerinnen und Politikern nur wenig Spielraum zu weiteren Steuersenkungen oder Deregulierungen lässt. Außerdem gibt es innerhalb einzelner Länder keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Staatsanteil an der Wirtschaft und dem Wirtschaftswachstum. Angesichts dessen, dass die britische Volkswirtschaft – selbst nach Jahrzehnten der Steuersenkungen und Deregulierung – immer noch weniger produktiv ist als vergleichbare andere, halten die meisten die Idee, dass Steuersenkungen für die Reichen die Angebotsseite stimulieren, bestenfalls für Wunschdenken.

"Seit der Thatcher-Zeit hat sich der Charakter industrialisierter Staaten erheblich verändert."

Um die britische Wirtschaft wiederzubeleben, dürfen Truss und ihre Regierung nicht in der Vergangenheit verharren, sondern müssen in die Zukunft schauen. Seit der Thatcher-Zeit hat sich der Charakter industrialisierter Staaten erheblich verändert – durch den weltweiten Übergang hin zu Dienstleistungen und Expertise; hochentwickelten Lieferketten, die innerhalb und zwischen Volkswirtschaften stärkere Verbindungen ermöglichen; und der wachsenden Bedeutung immaterieller Vermögenswerte. Diese globalisierte und hochspezialisierte Wirtschaft erfordert eine andere Art von Angebotsstrategie, bei der auch die Regierungen eine andere Rolle spielen.

Aktivere Rolle

Einige der klassischen Elemente des "Minimalstaats" wie Rechtsstaatlichkeit, Vertragsdurchsetzung, Infrastruktur und Ausbildung sind für diesen Übergang von entscheidender Bedeutung. Ebenso wichtig sind andere, weithin akzeptierte Regierungsfunktionen: öffentlich finanzierte Grundlagenforschung sowie steuerfinanzierte Forschung und Entwicklung in den Unternehmen.

Aber der Übergang zu digitalen und grünen Technologien erfordert, dass die Regierungen bei der Prägung der Märkte eine aktivere Rolle spielen. Digitale Märkte müssen wettbewerbsfähig sein, um zu neuen Unternehmensgründungen zu ermutigen. In Berichten aus Großbritannien, der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten wurden Maßnahmen vorgestellt, die die Regulierungs- und Wettbewerbsbehörden umsetzen können, um die heutigen, zu Monopolen neigenden Märkte konkurrenzorientierter zu machen.

Nationale Datenstrategie

Auch der Einsatz von Daten spielt beim unternehmerischen Erfolg eine wichtige Rolle. Forschungen zeigen, dass mit Daten ausgestattete Unternehmen produktiver und profitabler sind als andere in den gleichen Sektoren – und außerdem zahlen sie im Durchschnitt höhere Löhne. Dies macht nationale Datenstrategien sehr wichtig – mit denen festgelegt wird, welche Daten offen sein sollten, wie Wettbewerber auf bestimmte Daten zugreifen können, und wie der Verbraucherschutz gestaltet werden soll.

Und schließlich müssen die Regierungen heute entscheidend dazu beitragen, technische und regulatorische Standards für aufstrebende Technologien zu setzen. Und dies müssen sie rechtzeitig tun, um zu gewährleisten, dass die Märkte groß genug werden, um Investoren anzulocken. Öffentliche Beschaffung und Erstkaufsverpflichtungen können wichtige Werkzeuge sein, um Anreize für Innovationen und Investitionen zu geben. Dies galt bereits für die Entwicklung und Herstellung von Covid-19-Impfstoffen, und ebenso könnte es bei sauberen Energieträgern und biomedizinischen Entdeckungen der Fall sein.

Innovativer Staat

Kurz gesagt, eine Volkswirtschaft, die in einem massiven Strukturwandel steckt, benötigt eine vorausschauende Wirtschaftsstrategie. So wie der Ansatz der 1960er-Jahre, bestimmte "Gewinnerbranchen" zu subventionieren, weit über sein Ablaufdatum hinaus überlebt hat, gilt dies auch für den Steuersenkungs- und Deregulierungsansatz der letzten 40 Jahre.

Heute braucht es einen innovativen Staat, der langfristige Rahmenbedingungen für Investitionen einführen und die Spielregeln festlegen kann. Befreien sich Truss und Kwarteng nicht von den Rezepten der Vergangenheit, sieht es für die britische Wirtschaft unter ihrer Leitung düster aus. (Diane Coyle, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 12.10.2022)