Vor allem junge Menschen wollen anders arbeiten und geben statt Firmen den Ton an.
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Undenkbar, unmöglich, undurchführbar! Das haben die meisten Unternehmen noch vor drei Jahren zu Homeoffice für alle gesagt. Jetzt bieten neun von zehn Firmen in Österreich Zuhause als Arbeitsort an, wenn der Job das irgendwie zulässt, erhebt das Beraterhaus Deloitte aktuell. Homeoffice ist in Stellenanzeigen gängiges Werbewort geworden. Im Wochenrhythmus melden Jobportale Umfragen, wonach vor allem Einsteigerinnen und Einsteiger ihre Arbeitgeber nach flexiblen Arbeitsorten aus suchen – auch die Workation wird gefragter, also Arbeit von irgendeinem Ort aus, an dem es schöner ist als im Büro oder zu Hause. Für eine doch beachtliche Schicht der Arbeitenden hat sich rasch enorm viel verändert.

Der Umstellungszwang der Pandemie in Kombination mit weniger Nachwuchs, großen Pensionierungswellen der Babyboomer und einem neuen Selbstbewusstsein der Arbeitnehmerseite treibt Unternehmen jetzt zur Umsetzung von dem, was schon so lange behauptet wird: "Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt." Das Anwesenheitsdogma ist angeschlagen oder zerschlagen. Oben schafft an, unten führt unhinterfragt geht nicht mehr – vor allem die jungen Generationen challengen ihre Bosse. Leistung per Definition mit Anwesenheit gleichzusetzen geht nicht mehr selbstverständlich. Manche Unternehmen haben erkannt, dass dem Reden jetzt das Handeln folgen muss – und haben sich in große Labore begeben. Dazu gehört etwa der Test von Viertagewochen. Manche reduzieren Stunden und zahlen gleich viel, andere bieten wenigstens die Verdichtung der Arbeit auf vier Tage an.

Mehr Artikel zur neuen Arbeitswelt im Karrieremagazin, Beilage des Standard am 20.10.2022.
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Ist das das Ende der Fahnenstange – ein paar Tage Homeoffice, vielleicht zwei Monate Arbeit von Italien aus und 38,5 Stunden auf vier Tage zusammengeschoben? Wohl kaum. Denn im Hintergrund gibt es noch ganz andere Evolutionen – wenn nicht Revolutionen.

Erst galt Teilzeit als Falle, jetzt ist sie attraktiv

Was bis vor kurzem als Falle für Frauen galt, nämlich Teilzeit mit eher weniger, also rund um die 20 Stunden, wird jetzt von vielen begehrt, die es sich leisten können. Oder zumindest vorübergehend leisten können. Da wird Erbe zusammengestoppelt. Da wird im Hier und Jetzt verhandelt und geplant, nicht in der Perspektive über Jahrzehnte des Aufbaus und des Reinrackerns für ein vermeintlich schönes Pensionsauskommen. Da heißt es als Botschaft an die Firma: Ja, ich arbeite für dich, aber ich gehöre dir nicht ganz. Daneben gebe ich Yogakurse, mein Partner verdient auch, wir verzichten auf ein Auto. Auf den Urlaub im Ausland. Vielleicht sogar auf Kinder.

Sogar eigene Plattformen für Teilzeitarbeit und Jobsharing boomen – auch auf Führungsebene. Das sind für Unternehmen bittere Pillen. Alles Wohlstandsphänomene, die schnell wieder einem anderen Realitätssinn weichen, wenn sich die Wirtschaft abkühlt, die Inflation hoch bleibt, die Energiepreise nicht in den Griff zu bekommen sind? Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmarktservice (AMS), sagt Nein. Es werde nicht mehr so, wie es einmal war, dass Arbeitgeber aussortieren und auswählen.

Es bleibt umgekehrt: Wer qualifiziert ist, der wählt den Arbeitgeber und verhandelt weitgehend in starker Position, wie die Arbeit aussehen soll. Der AMS-Chef sagt das angesichts von rund 300.000 offenen Stellen und Unternehmen in bestimmten Branchen wie der Gastronomie, die ihre Dienstleistungen und Angebote einschränken müssen, weil sie eben die Scharen an "Humanressourcen" nicht mehr haben.

Wertschätzung und hohes Gehalt sind Priorität

Die Machtverhältnisse haben sich umgekehrt. Ohne höhere Bezahlung, bessere Bedingungen, echte Wertschätzung und menschlichen Umgang, das sagt auch Johannes Kopf ganz klar, werden es sehr viele Betriebe sehr schwer haben, Menschen anzuziehen. Und zu halten, geschweige denn ihnen sogenannte Extrameilen abzuverlangen. Denn: Auch wenn das in den USA bekannt gewordene Phänomen der "Great Resignation", also flächenmäßiger Kündigungen, ohne eine andere Stelle zu haben, hierzulande nicht zu verbuchen ist – hier sagen Menschen auf ihre Art Nein.

Lying Flat

Druck, Hektik, Belastung, Konsum – die Höher-schneller-weiter-Mentalität in allen Lebenslagen hinterfragen nun immer mehr Menschen. Die Idee, Nein zu sagen und herumzuliegen, ist inspiriert von der chinesischen Protestbewegung Tang Ping. Was im Frühjahr 2021 in China begann, schwappte mit der "Great Resignation" und "Lying Flat" in die USA über. Die Absage an den gesellschaftlichen Druck zur Überarbeitung und das Entkommen aus dem Hamsterrad mit immer geringeren Erträgen finden auch hierzulande immer öfter Anklang.
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Dazu gibt es eine Menge neuer Begriffe – etwa quiet quitting. Auf Tiktok propagiert, ist damit gemeint: Ich arbeite nur so viel, wie auch meine Bezahlung rechtfertigt. Mein Leben, meine Kraft, meine Freizeit, meine Kreativität schenke ich nicht irgendeiner Firma. Damit wird auch ein Glaubwürdigkeitsproblem der Corporate World sichtbar. Offenbar gibt es jetzt Rechnungen für viele Versprechen, die nicht gehalten wurden und werden. Von der kollegialen Führungskultur bis zum Umweltengagement. Jetzt liegen offenbar Rechnungen für quälendes Betriebsklima, für Greenwashing, für Pinkwashing auf dem Tisch.

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Wellbeing

Spätestens seit Beginn der Pandemie ist Wellbeing auch am Arbeitsplatz ein großes Thema. Unternehmen müssen lernen, gesunde Jobs anzubieten und Mitarbeitenden zu helfen, sich mittels Selbstfürsorge zu schützen. Und wie geht das? Ein Schaumbad ist wohl oft gut – das allein reicht aber nicht. Vielmehr geht es grundsätzlich um eine wertschätzende Haltung sich selbst gegenüber, die eigene Bedürfnisse wahr- und ernst nimmt. Selbstfürsorge ist damit eine Form der Eigenverantwortung und hat für viele Menschen damit zu tun, Nein-Sagen zu lernen.
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In vielen Kommentaren wird dem mit Verunglimpfung junger Generationen begegnet: Die könnten sich für nichts mehr begeistern. Die wollen nichts mehr leisten. Die wollen nur eine Schonhaltung einnehmen. Tatsächlich sagen die Jungen (Generationen Z und Y) in allen Umfragen dasselbe – sie wollen empathische Vorgesetzte, sie wollen ein faires Gehalt, und sie wollen eine gesunde Arbeit. Sie wollen Respekt, Wertschätzung – und sie wollen ausreichend Zeit für Freunde, Familie, für alles, was im Leben wichtig ist. Hand aufs Herz: Wer will das nicht?

Ein bisschen Flexibilität reicht nicht

Tatsächlich ist aber unerheblich, ob diese Ansprüche bejubelt werden als Humanisierung der Arbeitswelt oder ob sie despektierlich abgeurteilt werden. Faktum bleibt: Unternehmen, die Mitarbeitende haben wollen, die etwas können, müssen sich ändern. "Tanzen", wie der AMS-Chef es formuliert. Denn: Automatisierung und Digitalisierung können die demografische Kurve nicht kompensieren. Auch im Wirtschaftsabschwung werden Fachleute – vom Installateur über die Buchhalterinnen bis zu Programmiererinnen – gesucht bleiben. Der große Mangel in den bekannten Branchen wie Pflege, Lehre und verschiedenen Dienstleistungen nebst Ärztinnen und Ärzten geht nicht einfach weg.

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Quiet Quitting

Regelmäßige Überstunden, ständige Erreichbarkeit sowie Aufgaben, die über die Jobbeschreibung hinausgehen: Für viele Beschäftigte gehört das zum Arbeitsalltag. Dagegen regt sich nun vor allem unter jungen Menschen Widerstand – und das in Form von "Quiet Quitting", wörtlich übersetzt einer "stillen Kündigung". Bekannt geworden ist der Begriff durch ein virales Tiktok-Video. Anders als der Name zunächst vermuten lässt, kündigen Quiet Quitter aber nicht ihren Job, sondern gehen stattdessen nicht mehr die sprichwörtliche Extrameile für den Arbeitgeber.
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Ein bisschen Flexibilität anzubieten wird auch nicht reichen. Denn: Auch die Viertagewoche klappt nicht, wenn sich die Prozesse der Organisation nicht umstellen. Nicht einmal Homeoffice kann gut, gesund und produktiv funktionieren, wenn dabei mit Spysoftware zwecks Überprüfung gearbeitet wird oder Firmen ihren Leuten nichts anbieten, was zur Erhaltung der Gesundheit abseits des Arbeitens im Büro beiträgt.

Fürsorgepflicht der Arbeitgeber hat nun eine neue Bedeutung, eine neue Dimension erreicht. Das lässt sich nicht unter Wellbeing -Ansprüchen belächeln. Das bedeutet klar, dass Angebote zur Selbstfürsorge selbstverständlich zu den Pflichten der Arbeitgeber gehören. Das bedeutet selbstverständlich, dass eine kleine Achtsamkeitsschulung für Führungskräfte und ein Wochenendseminar in Diversitätsmanagement nicht reichen.

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Ghosting

Der Begriff Ghosting stammt ursprünglich aus der Welt des Datings. Darunter versteht man den kompletten Kontaktabbruch und das Ende jeglicher Kommunikation ohne Vorwarnung. Kontaktversuche der geghosteten Person laufen dabei ins Leere. Ein solches Verhalten könnte manchen jedoch auch im Job bekannt vorkommen. Während es früher meist Beschäftigte waren, die auf Jobsuche von einem Kommunikationsstopp betroffen waren, sind es nun immer öfter Firmen, die keine Rückmeldung mehr von Kandidatinnen und Bewerbern bekommen.
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Angebote auch an frühe Bildungsabbrecher

Das bedeutet aber auch, dass Gesetzgeber einen Auftrag haben: Wie passen die Vorschriften zur Arbeitszeiterfassung in die modernen Zeiten? Wie kann der Arbeitnehmerschutz mitziehen? Wie kann eine europäische Harmonisierung verhandelt werden, die Arbeitsorte tatsächlich versicherungstechnisch und steuertechnisch leicht möglich macht?

Und es stellt sich verschärft die Frage nach dem Ausgleich in der immer mehr auseinanderdriftenden Zweiklassengesellschaft: Was sind wir bereit für jene Tausenden zu tun, die frühe Bildungsabbrecher sind, die leicht ausgetauscht werden können, die unter Bedingungen arbeiten, die keine Forderungen und Ansprüche zulassen? Diese Ungleichheit vergrößert sich gerade. Gesellschaftlich und auch in Unternehmen.

Damit ist auch der Bildungs- und Weiterbildungsauftrag in der neuen Jobwelt noch einmal neu definiert. Wir lassen noch immer Zigtausende einfach zurück, weil sie noch nicht "passen". Das ist auch ein riesiger Inklusions- und Weiterbildungsauftrag an Firmen: Fixfertige "Produkte, die funktionieren", wird es immer weniger geben. Wer es schafft, die große Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Wertschätzung und Entwicklungschancen anzubieten, wird gewinnen. (Karin Bauer, 20.10.2022)