Kanzler und ÖVP-Chef Nehammer verteidigt weder Vor-Vorgänger Kurz, noch patzt er den Zeugen Schmid an. Er sagt: "Wenn die Vorwürfe stimmen, ist das nicht in Ordnung."

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Der Bundeskanzler gab sich auffallend unparteiisch. Weder nahm er seinen Vorvorgänger in Schutz, noch patzte er den Zeugen der Anklage an. Die Sebastian Kurz angelasteten Verfehlungen kommentierte Karl Nehammer zwar mit milder Zurückhaltung: "Wenn diese Vorwürfe stimmen, dann ist das nicht in Ordnung." Doch Verteidigungsreden sind passé.

Zuvor hatten ÖVP-Politiker Thomas Schmid häufig als Ursprung allen Übels dargestellt. Nun sagt Nehammer: "Es stehen viele konkrete und unkonkrete Aussagen von Schmid gegen viele Personen im Raum, deren Wahrheitsgehalt niemand von uns überprüfen kann." Es war ein kurzes schriftliches Statement mit ein paar Zitaten, das aus dem Kanzleramt Mittwochmittag an die Medien ging. Die Vorwürfe würden die Vergangenheit betreffen, wird betont. Jetzt seien die Ermittlungsbehörden am Zug.

Aber wird das an Erklärung des aktuellen ÖVP-Chefs und Kanzlers reichen? Aus seinem Umfeld ist zu hören, dass man selbst nicht recht wisse, wie mit der Situation umzugehen sei. Schließlich sei niemand der heute handelnden Personen im Kanzleramt in die Vorwürfe verstrickt. Ob sich Schmid nur verteidige, um Kronzeuge zu werden und sich straffrei aus der Affäre zu ziehen? Ob er zumindest in Teilen die Wahrheit sage? Man könne es zum gegebenen Zeitpunkt nicht beurteilen.

Selektive Wahrnehmung der ÖVP

Es stimmt allerdings nicht ganz, dass alle betroffenen Akteure bloß Teil der türkisen Geschichte sind. Schmid erhebt Vorwürfe gegen den niederösterreichischen ÖVP-Politiker Wolfgang Sobotka, der ist aktuell Nationalratspräsident und soll einst erfolgreich gegen Steuerprüfungen bei ÖVP-nahen Institutionen interveniert haben. Dem Oberösterreicher August Wöginger, als Klubchef im Parlament ein Schlüsselspieler der Koalition, lastet Schmid wiederum eine parteipolitisch motivierte Postenbesetzung an (siehe Seite 4). In beiden Causen geht es jedoch nicht um die Inseraten affäre, wird in der ÖVP derzeit gerne betont. Und beide Betroffenen bestreiten jeglichen Vorwurf.

Nehammer selbst geht auf diese zwei Fälle erst gar nicht ein. Der Kanzler, der einst von Kurz in die Spitzenpolitik geholt wurde, hält lediglich generell fest: "Die Justiz soll die Ermittlungen sorgfältig führen, ich habe das Land durch eine Krise zu führen."

Fest steht: Nehammer hat seine Kommunikationsstrategie leicht abgeändert. Er stellt sich vor niemanden mehr und versucht, sich als unbeteiligten Unwissenden darzustellen. Die Argumentationslinie von Kurz selbst und dessen Umfeld übernimmt er nicht. Denn bei den Betroffenen lautet die Kernargumentation der Verteidigung: Thomas Schmid wolle Kronzeuge werden, deshalb schlage er um sich und stelle falsche Vorwürfe in den Raum. Als Kronzeuge könne Schmid schließlich seinen eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen. Deshalb sei den Aussagen Schmids nicht zu trauen.

Ein erstes Stimmungsbild ergibt: Bei den ÖVP-Abgeordneten im Parlament verfängt diese Argumentation offenbar noch. Soweit am Tag eins nach Schmids Anschuldigungen zu vernehmen, berichtet ein Mandatar, seien die Fronten eindeutig zugunsten von Kurz und auch Sobotka bezogen. Offiziell gilt aber das gleiche Wording, das Nehammer bemüht: Zu entscheiden hätten die Gerichte.

Grüne in moralischer Zwickmühle

Doch maßgeblich sind nicht nur die türkisen Abgeordneten. Unabhängig vom weiteren Verlauf der Ermittlungen stellt sich auch die Frage, wie die Grünen als kleiner Regierungspartner der ÖVP Schmids Geständnis bewerten. Was bedeutet die neueste Wendung in der Korruptionscausa für die Koalition? Wackelt das türkis-grüne Bündnis womöglich?

Auch die kleinere Regierungspartei steckt in einer heiklen Lage – vor allem aus mora lischer Sicht. Denn schenkt man dem Kronzeugen in spe Glauben, dann geben die Grünen den Mehrheitsbeschaffer für einen Partner, der die Kanzlerschaft nicht zuletzt mit illegalen Methoden errungen hat. Kann eine Partei, die mit dem Anspruch der politischen Sauberkeit bereits Wahlkämpfe bestritten hat, da noch mitmachen, ohne alle Glaubwürdigkeit zu verspielen?

Bedenken gibt es in den grünen Reihen allemal. Schließlich sitzen im Parlamentsklub auch Abgeordnete, die der Liaison mit der Kurz’schen ÖVP von Anfang an skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Doch eine breite Front gegen die Regierungsbeteiligung zeichnet sich nicht ab, von einem Aufstand ganz zu schweigen.

Untragbar, aber unablösbar

Schmids Anschuldigungen gegen Kurz bildeten kein neues Hindernis, so der Tenor. Die Partie um den ehemaligen türkisen Heilsbringer habe man ohnehin schon vor einem Jahr "abgesagelt", wie es einer nicht ohne Stolz ausdrückt. Die jüngste Entwicklung bestätige nur, wie richtig die von den Grünen vor einem Jahr erzwungene Ablöse des damaligen Kanzlers gewesen sei – worauf auch Vizekanzler und Parteichef Werner Kogler hinwies.

Anders ist das bei Sobotka, der sich nach wie vor an Amt und Würden klammert. Natürlich sei der Niederösterreicher untragbar, urteilen Grüne, erkennen aber keine Möglichkeit zum Eingriff. Eine Abwahl oder Absetzung des Nationalratspräsidenten sehen die Regeln nicht vor, Sobotka müsste schon aus freien Stücken gehen. Die Einzige, die ihn dazu bewegen könnte, meint ein Vertreter des Juniorpartners, sei de facto Niederösterreichs ÖVP-Chefin Johanna Mikl-Leitner.

Öffentlicher Druck sei hingegen kontraproduktiv, zumal Sobotka auf stur schalten würde, so das Kalkül – entsprechend schaumgebremst fielen die offiziellen Statements aus. An der Stelle des von Schmid Beschuldigten hätte sie nicht nur längst ihr Amt abgegeben, sondern wäre zu diesem gar nicht angetreten, sagte die Abgeordnete Nina Tomaselli, bezog sich dabei aber nur auf die Rolle des Vorsitzenden im Untersuchungsausschuss – und nicht auf den Posten des Nationalratspräsidenten.

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Kosten eines Koalitionsbruchs

Den Fall von August Wöginger, der laut Schmid im Finanzamt Braunau für einen genehmen Leiter interveniert haben soll, sehen die Grünen ohnehin entspannter – schon deshalb, weil der "Gust" nicht so im Rampenlicht stehe. Solle diese Art von Postenschacher als Grund für einen Koalitionsbruch herhalten, sagt ein Grüner, dann könne man eine Regierung mit der SPÖ auch gleich vergessen.

Außerdem habe es in einer Koalition aus Sicht eines kleineren Partners wohl noch nie so gute Arbeitsbedingungen gegeben wie jetzt, fügt der Parlamentarier an. Weil die ÖVP mehr als jede andere Partei Neuwahlen verhindern wolle, sei sie ungewöhnlich nachgiebig – zugunsten grüner Forderungen. Von den Klimaschutzmaßnahmen bis zur Entwicklungszusammenarbeit sei das jüngste Budget ein durchschlagender Erfolg: "Sollen wir all diese Fortschritte aufgeben, nur weil der Sobotka im Amt bleibt?" Wegen einer solchen Frage eine ganze Regierung in turbulenten Zeiten aufzukündigen, ist von mehreren Seiten zu hören, wäre wohl doch eine Überreaktion.

Zweifelhafte Zukunft

Obendrein stellt sich die Frage nach der Alternative. Eine Flucht aus der ÖVP-geführten Regierung drohe in einem Scherbenhaufen zu enden, fürchten die Pragmatiker auf grüner Seite. Ja, viele in der Partei träumten von einer "progressiven" Ampel mit SPÖ und Neos. Doch ein Blick auf die Umfragen beweise, dass sich da kaum mehr als eine Fata Morgana am Horizont abzeichne: Zuletzt lagen die drei Koalitionäre in spe meist unter den notwendigen 50 Prozent. Gerade die Bundespräsidentenwahl habe doch wieder einmal gezeigt: Im Zweifelsfall kippten die unentschlossenen Wähler eher ins Lager rechter Splittergruppen, als die Linke zu stärken.

All dessen sei sich übrigens auch ÖVP-Chef Nehammer bewusst, analysiert einer aus einem grünen Ministerium, womit es mit den eigenen Druckmitteln nicht so weit her sei. Die Ansicht, dass für den Juniorpartner nun alles leichter sei, kann der alltagsgeprüfte Informant nicht bestätigen. Es gebe in der ÖVP seit Kurz’ Abgang ja nicht einmal ein Machtzentrum, das man erpressen könne: "Spielt der Wirtschaftsbund oder eine andere Teilorganisation nicht mit, hilft keine Drohung etwas, dann kann Nehammer nichts ausrichten. Die Regierungsarbeit ist kein bisschen weniger mühsam." (Gerald John, Katharina Mittelstaedt, 19.10.2022)