Alexander Kristen hat "Chef de Cuisine" auf der Visitkarte stehen, die er mir in die Hand drückt. Früher war er Koch mit Stationen wie der Stadtflucht Bergmühle, dem Le Ciel, bei Haubenkoch Konstantin Filippou und im hippen Motto am Fluss. Derzeit ist er allerdings "Chef de Baustelle". Wo Wo neuerdings die Prost GmbH ihren Sitz hat, wird seit geraumer Zeit nämlich hinter dem Gartenzaun entrümpelt, geschliffen, verlegt, renoviert und betoniert, und dabei werden die Sedimentsschichten von über 120 Jahren Gastro-Geschichte freigelegt.

In der Speisinger Straße 224 wird der 120 Jahre alte Schwammerlwirt behutsam revitalisiert.
Foto: Stefan Fürtbauer

1899 hat hier ein Weinhaus aufgesperrt, Heinrich Prost hieß er, "der erste Wirt und der erste Heinrich" der Familie. Ein imposantes Foto, das hinkünftig die Bierdeckel zieren soll, zeigt ihn mit beeindruckendem Schnauzer beim Pfeiferauchen, "Der Hausherr nach’n Zins" steht darunter. Mauer galt damals noch als Luftkurort, erzählt Kristen. Einst war hier kein Wirtshaus, sondern die Gärtnerei der Villa Erna, das Nebenhaus war ein Bedienstetenhaus. Ein Zimmer im Gebäude nutzte der Totengräber, es wird künftig zum Wirtshaus dazugehören, das ist auch als Metapher würdig und recht.

Das ursprüngliche Weinhaus Prost erhielt im Lauf der Jahre durch die pure Macht des Faktischen einen Vulgonamen: Die vielen Spaziergängerinnen und Flaneure nützten den Gastgarten der Gastwirtschaft nach ihren Ausflügen in den Wienerwald als Schwammerlbörse, hier wurden Pilze getauscht und verkauft. So wurde der "Schwammerlwirt" geboren und blieb – bis 2020. Die riesige Tafel auf die Speisinger Straße hinaus samt namensgebendem Riesenschwammerl vor knallgelbem Hintergrund zeugt noch heute davon.

Dornröschenschlaf

Kurz vor Corona sperrte die Familie das Gasthaus zu, die letzte Wirtsgeneration ging in Pension. Über die Weiterführung des Hauses war man sich uneins. Tatsächlich liegt das Haus nur kurz im Dornröschenschlaf. Alexander Kristen ist mit der Tochter des Hauses, Ricarda Rungaldier, verheiratet.

Und so froh die Familie auch war, nichts mehr mit dem eigenen Wirtshaus zu tun zu haben – 120 Jahre Dreigenerationenbetrieb sind genug für so ein Familienverhältnis –, so sehr freuten sich doch alle, als jemand anderer diesen Job freudvoll übernahm und die Geschichte weitergeschrieben wurde. Also bekam Kristen sämtliche Schlüssel zum Haus in die Hand gedrückt, und die Schwiegermutter Manuela Rungaldier-Prost, die letzte Prost, sagte schlicht und ergreifend: "Mach!"

Alexander Kristen (rechts), Chef de Cuisine mit Stationen etwa bei Haubenkoch Konstantin Filippou, und die Philosophin Ulrike Plichta (links) versuchen die Wirtshausurigkeit zu erhalten.
Foto: Stefan Fürtbauer

Geschichte, nicht Müll! Vermutlich fällt es einem Außenstehenden leichter, die Altlasten von 120 Jahren auszusortieren. Die Meinungen darüber, was Schätze waren, die es zu bewahren galt, und was, wenn überhaupt, auf den Flohmarkt gehörte, gingen auseinander – die Älteren hätten am liebsten alles in Bausch und Bogen entsorgt. Nun profitiert man doch davon, dass das Haus all die Jahrzehnte in Betrieb war – niemand hatte Zeit auszumisten.

Vintage-Himmel

Hier kommt Ulrike Plichta ins Spiel, Selbstbezeichnung "Organisationsentwicklerin und Philosophin". Sie weiß, wie man alte Gegenstände neue Geschichten erzählen lässt, wie man Räume inszeniert, wie das Verstaubte wegkommt und die Patina bleibt, aber nicht zur Deko verkommt. Als ich im Spätsommer auf Besuch komme ("feste Schuhe anziehen!"), ist der Gastgarten ein einziges Sammelsurium von in Stroh gewickeltem Glas, Kisten voller über 100-jähriger Tageszeitungen. "Das ist kein Müll, sondern Geschichte", sagt Plichta, unter der gelbweißen Markise stapeln sich vor dem Regen geschützt die Schätze.

"Prima Würfelzucker Raffinade" steht auf einer Kiste der Hohenauer Zuckerfabrik der Brüder Strakosch (Inhalt 25 Kilo), "Henkel Persil Selbsttätiges Waschmittel" gibt Spätgeborenen Rätsel auf. Berge an Sodaflaschen gibt es, Gebinde von Vermouth Rosso von Isolabella & Figlio, irgendwo gab es einen Ballon voll jamaikanischem Rum, alles wahr gewordener Tagtraum einer Ausstattungskünstlerin.

Ist sie im Vintage-Himmel? "Na, was heißt!", sagt Plichta. Einen alten Schnaps traute man sich verkosten, das Erlebnis will man aber nicht wiederholen. Plichta hat die verstaubte Garderobe gerettet, die entsorgt werden sollte, und auch die letzten Reste der Tapete, in Pastelltönen mit Eiffelturm, Hafenidyllen und Rom-Motiven – fein gestrichelte Mid-Century-Sehnsucht nach der großen Welt.

Foto: Stefan Fürtbauer

Im Haus ist auch sonst noch allerhand Kurioses aufgetaucht, Rucksäcke und Tragen aus dem letzten Weltkrieg waren auf dem Dachboden, hier war einst russische Besatzungszone. Im ersten Stock dient die ehemalige Wirtswohnung als Lager für eh alles und erstrahlt selbst in schönstem Glanz der 50er- und 60er-Jahre. Auch hier gibt es ein paar Ideen, was man damit machen könnte, aber eins nach dem anderen. Hier verstaubt die Sicherheitsgeldlade von früher, sie klingelte leise, wenn sie jemand ohne Code zu öffnen versucht. Und hier liegen die Tafeln, die Weine von früher bewerben, Wein-Historie in Email: "Süffiger Schrattenberger Gutedel Veltliner, ¼, 5,–", ja Schilling waren das, "G’rebelter Gumpoldskirchner Rotgipfler, ¼ S 8,– (inkl. Getränkesteuer)", "Milder, kräftiger Sooser Roter, Blaufränkisch ¼ l S 6,–".

Die ehemaligen Besitzer hätten die alten Stücke am liebsten in Bausch und Bogen entsorgt.
Foto: Stefan Fürtbauer

"Keller !!! Vorsicht !!! Gefährliche Stiegen! Auf den Kopf achten!" steht zur Warnung, bevor es hinunter in den Keller geht. Auch er lag 15 Jahre lang im Tiefschlaf. Noch sieht man im Kellerfenster die Aussparung, durch die vor 100 Jahren die Fässer im Keller befüllt wurden. Viele alte Flaschen lagerten hier, darunter auch mundgeblasene Dopplerflaschen mit Korkverschluss, inzwischen eine Rarität, "die hat man uns aus der Hand gerissen", so Kristen. 400 davon gingen an das Weingut Mantlerhof, das darin dem Seuchenjahr 2020 mit der Riesling-Sonderabfüllung "Annus horribilis 2020" gedachte.

kisten mit krügen Es gibt diesen Moment bei aufwendigen, langwierigen Arbeiten, wo es so chaotisch aussieht, dass man übersehen könnte, wie viel schon weitergegangen ist. Man kennt es zu Hause von Wäschebergen oder aussortiertem Klumpert in Haufen auf dem Boden, je nach zukünftiger Zweckwidmung. Im Hinterzimmer stapeln sich die waldgrünen Cord-Möbel neben eleganten Beistelltischerln und Kisten mit Bierkrügen. "Das wird die Küche", heißt es beim Reingehen, derzeit weisen allein die zukünftigen Steckdosen darauf hin, dass es hier einmal wieder heiß hergehen wird.

Es braucht manchmal einen neuen Blick auf Altes.
Foto: Stefan Fürtbauer

Wenig Spuren gibt es noch von Stüberl-Heimeligkeit. Doch die zwei wichtigsten Stücke eines Wirtshauses beherrschen die künftige Gaststätte auch unter ihren schützenden Plastiküberwürfen. "Josef Riebl" steht auf der wunderschönen alten Kühlung, die mit neuem technischen Innenleben und neuen Beschlägen ihre alte Funktion wahrnehmen wird. Und im Nebenzimmer thront die große Kühlvitrine und harrt der neuen Gäste. Noch gibt es ein, zwei Betriebe in Wien, die die Geräte servicieren können.

Bis zu fünf Schichten Tapete wurden von den Wänden abgetragen, darunter finden sich auch Muster von per Strukturwalzen aufgetragener Farbe. Auch sie werden wieder zum Einsatz kommen, manche Wand wird einfach so bleiben und versiegelt werden. "Das Ding lebt halt", sagt Kristen – er kann als Angeheirateter die Geschichte des Hauses unsentimental nehmen. Und doch ist genau deshalb er es jetzt, der durch die Gespräche mit den vorigen Generationen mehr über das Haus und die Familie weiß als die eigene Frau – aber vermutlich lässt es sich so auch leichter erzählen.

Aufsperren wollte Kristen im September, Corona hat auch bei ihm durch Lieferengpässe und Arbeitskräftemangel die Bauzeit verzögert. Ganz wusste er nicht, worauf er sich einließ, man könnte fast glauben, das ist Grundvoraussetzung für so ein Projekt. "Ich habe aufgehört, Kaffee zu trinken", lacht er. Derzeitig avisierter Wirtshausstart ist im Jänner 2023. Bis dahin soll auch die Prost GmbH reanimiert sein. Und dann wird, hoffentlich, die Speisinger Straße 224, an der Strecke von 60er, 56 A und B, wieder zum Wirtshaus geworden sein und dem alten Anspruch "nur das Beste für unsere Gäste" gerecht werden. Die Öffnungszeiten werden sich wohl ändern und sich den neuen Wirtshausgewohnheiten anpassen. Wild soll es wieder geben, auch Wildinnereien, Kristen selbst ist Jäger. Und die Plichta wird die schönsten Stücke in die Räume stellen, damit sie von früher erzählen, ganz im Heute. ( Julia Pühringer 28.10.2022)

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Mal Zeit! Eine Auswahl von Wiener Gasthäusern

Schicke Haubenrestaurants und hippe Trendlokale schön und gut – aber manchmal sehnt man sich bei all dem Tamtam einfach nur nach Gemütlichkeit und bodenständiger Küche. Zum Glück gibts im Wien eine Vielzahl an Gasthäusern mit der vielgerühmten Urigkeit.

Gasthaus Wild

Das über 100 Jahre alte Gasthaus am Radetzkyplatz wurde im Jahr 2002 behutsam renoviert, die historische Schank nach Originalvorlage erneuert. Kenner schwören, dass man die gebackenen Blunzenradln bestellen sollte. Wer nach der üppigen Kost einen Digestif benötigt: Hinter der Theke werden edle Brände hervorgefischt.

Radetzkyplatz 1, 1030 Wien, 01 920 94 77, Di–So: 10–24, gasthaus-wild.at


Zum Alten Fassl

Wer fleischlastige Hausmannskost und große Portionen liebt, wird in der Gastwirtschaft Zum Alten Fassl im vierten Bezirk fündig. In der Gaststube mit dem namensgebenden Fass kehrte Ende der Siebziger auch Popstar Falco gerne ein. Der prominente Gast wird immer noch mit einer entsprechenden Gedenktafel geehrt. Ziegelofengasse 37, 1050 Wien, 01 544 42 98, Mo–Do: 17–24, Sa: 17–22, So: 12–15/17–24, zum-alten-fassl.at


Zur Stadt Krems

Foto: Tim Walker

Gemeinsam mit Michael Bull hat die ehemalige Chefkellnerin Hanni Grötz 2021 die Leitung des Gasthauses Zur Stadt Krems übernommen. Die beiden setzen weiterhin auf frischgekochte klassisch österreichische Gerichte. Ein Highlight abseits der Speisekarte ist zweifelsohne die älteste lokaleigene Kegelbahn der Stadt. Hilft beim Verdauen – aber Achtung auf die Finger! Zieglergasse 37, 1070 Wien, 01 523 72 00, Mo–Fr: 11.30–22, zurstadtkrems.com


Rebhuhn

Foto: Alexi Pelekanos

Den urigen Charme des typischen Eckbeisls mit holzvertäfelten Wänden und großer Schank hat man trotz mehrmaliger Renovierungen erfolgreich erhalten. Auf der kleinen, aber feinen Speisekarte des Gasthauses in der Berggasse stehen neben traditioneller Wiener Küche auch moderne und vegetarische Gerichte. Berggasse 24, 1090 Wien, 01 319 50 58 Mo–So: 11–24, rebhuhn.at

Gasthaus Kopp

Seit drei Generationen wird das Gasthaus Kopp als Familienbetrieb geführt. Der "Kopp", wie das Lokal von Stammgästen genannt wird, ist weit über den 20. Bezirk hinaus legendär. Grund dafür sind in erster Linie die überdimensional großen Schnitzel und die ruppig-charmante Art der Kellner – typisch wienerisch eben. Engerthstraße 104, 1200 Wien, 01 330 43 92 Mi–So: 10–23, gasthaus-kopp.at

Gasthaus Quell

Die Patina im Innenraum erzählt von der langen Geschichte des Gasthauses Quell. Am Stammtisch ist eine Plakette angebracht, die dem Mastermind hinter der Kunstfigur Kurt Ostbahn, Günter Brödl, gewidmet ist. Willi Resetarits war natürlich auch oft hier. Unbedingte Empfehlung auf der Speisekarte: der Zwiebelrostbraten. Reindorfgasse 19, Oelweingasse 1, 1150 Wien, 01 893 24 07, Mo–Fr: 11–24, gasthausquell.at

(Michael Steingruber, 28.10.2022)

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Update: Der Schwammerlwirt liegt zwar in der Speisinger Straße, aber dieser Teil gehört zum Stadtteil Mauer im 23. Bezirk, nicht wie ursprünglich berichtet zum 13. Bezirk.