Lasst uns die Sache am Schachbrett klären, schlägt Kenneth Rogoff, der frühere Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, im Gastkommentar vor.

Hans Niemann
Foto: EPA/Michael Thomas

Die Schachwelt wird zurzeit von einem Betrugsvorwurf erschüttert. Der Weltschachverband (Fide) hat eine Untersuchung eingeleitet, die hoffentlich zu besseren Regeln führt. Da dies die aktuelle Kontroverse jedoch kaum entscheiden dürfte, möchte ich eine andere Lösung vorschlagen.

Hier ganz kurz die Fakten: Anfang September hat der 19-jährige US-amerikanische Emporkömmling Hans Niemann mit den schwarzen Figuren den Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen vernichtend geschlagen. Beobachterinnen und Beobachter waren nicht deshalb schockiert, weil Carlsen verloren hat – was durchaus vereinzelt vorkommt –, sondern weil Spitzenspieler nur äußerst selten derart mühelos und einseitig besiegt werden.

Magnus Carlsen
Foto: AFP / Arun Sankar

Offene Kontroverse

Die Angelegenheit hätte damit zu Ende sein können, wenn Carlsen sich nicht aus dem Turnier zurückgezogen und angedeutet hätte, Niemann habe sich bei seinem Spiel von einem Computer unterstützen lassen, möglicherweise mithilfe eines Komplizen. Später bezichtigte er Niemann in einem offenen Brief unverhüllt des Betrugs. Seine Erklärung, die Kommentare anderer Spieler und alle weitere Einzelheiten der Affäre liegen inzwischen offen zutage. Aber letztlich hat niemand definitive Antworten.

Zwar ist unstrittig, dass Niemann bereits in Online-Turnieren betrogen hat, deren Ergebnisse nicht in die internationale Rangliste einfließen. Das hat er selbst zugegeben. Was die Schachwelt erschüttert, ist Carlsens Vorwurf, Niemann würde auch bei großen Turnieren betrügen, in denen er von allen Seiten von Kameras umgeben ist.

"Merkwürdiges Verhalten ist kein Verbrechen."

Carlsen blickt auf eine lange Karriere als vollendeter Schachsportler zurück, in deren Verlauf er in zehntausenden Partien gegen alle möglichen Spieler angetreten ist. Seine Glaubwürdigkeit steht außer Zweifel, und es fällt schwer, ihn nicht ernst zu nehmen. Wenn er das Gefühl hatte, Niemann habe sich während der Partie merkwürdig verhalten (in seinem offenen Brief schreibt er, sein Gegner habe sich scheinbar nicht konzentriert oder das Spiel ernst genommen), muss man das respektieren.

Allerdings ist merkwürdiges Verhalten kein Verbrechen. Um seine Vorwürfe zu untermauern, müsste er so etwas wie echte Beweise dafür vorlegen, dass ein Komplize die Partie verfolgt, mithilfe eines Computers den besten Zug berechnet und diesen zum Beispiel in Form von Morsezeichen an ein Gerät übermittelt hat, das Niemann bei sich trug. Wie könnte man auf Turnieren so etwas verhindern? Körperscanner sind eine gute Lösung, wenn man verhindern will, dass die Spieler eine Waffe tragen. Sie könnten aber höchstwahrscheinlich keinen winzigen Empfänger aufspüren, den ein Spieler irgendwo am Körper trägt.

"Alle großen Turniere screenen regelmäßig Partien, um zu erkennen, ob ein Spieler zu sehr 'wie ein Computer' spielt."

Der Fall ist auch deshalb so kompliziert, weil sich im Nachhinein relativ leicht prüfen lässt, ob ein Teilnehmer sich durchgehend von einem Computer hat helfen lassen. Alle großen Turniere screenen regelmäßig Partien, um zu erkennen, ob ein Spieler zu sehr "wie ein Computer" spielt. Wenn ein Spieler jedoch seine Spuren verwischt und ab und zu ein paar mittelmäßige Züge einbaut, lässt sich dies nur sehr schwer erkennen. Außerdem braucht ein Spieler, der stark genug ist, nicht bei jedem Zug Hilfe. Schon ein gelegentliches "Hier musst du aufpassen" brächte einen gewaltigen Vorteil.

Brillante Züge?

Inzwischen präsentieren viele Hobbydetektive ihrer Meinung nach eindeutige Beispiele für Partien, in denen Niemann so unglaublich brillant und so computergleich spielt, dass er zumindest bei einigen Zügen betrogen haben muss.

Hikaru Nakamura, lange einer der besten Spieler der Welt, kommt zu der Schlussfolgerung, Niemann sei entweder das größte Schachtalent, das die Welt je gesehen hat, oder ein Betrüger. Ein anderer Spitzenspieler, Fabiano Caruana (der gegen Carlsen in allen Partien der Schachweltmeisterschaft von 2018 ein Remis erspielte und schließlich in den Schnellschach-Partien unterlag) äußert sich vorsichtiger als Nakamura, findet einige von Niemanns Zügen jedoch ebenfalls so brillant, dass sie seinen eigenen menschlichen Verstand übersteigen.

Bei all dem dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass der anerkannte Betrugsbekämpfungsexperte Ken Regan, ein Informatiker von der University at Buffalo, in seiner eigenen statistischen Analyse von Niemanns Partien nichts offensichtlich Verdächtiges finden konnte.

"Was, wenn er wirklich ein zweiter Bobby Fischer ist?"

Die Situation ist irritierend. Einerseits fühle ich mich alles andere als wohl dabei, dass Niemanns vielversprechende Karriere zerstört wird. Was, wenn er wirklich ein zweiter Bobby Fischer ist? Darf man ihn für seine Genialität bestrafen?

Andererseits will ich, dass Niemann beweist, dass er wirklich genial ist. Das könnte er zum Beispiel einfach tun, indem er den Organisatoren eines wichtigen Turniers erlaubt, ihn unmittelbar nach einer oder zwei Partien detailliert zu seinen Überlegungen zu befragen (jedoch nicht in Bezug auf die ersten paar Züge, die in der Regel sowieso das Ergebnis einer computergestützten Vorbereitung sind). Sie könnten ihm diese Mühe mit einer hohen Bonuszahlung versüßen. Und natürlich würden diese Interviews für weltweite Aufmerksamkeit sorgen.

Bisher waren Niemanns Erklärungen für entscheidende Züge tatsächlich recht oberflächlich und haben den Verdacht gegen ihn eher bestärkt. Wenn ein wirklich großer Schachmeister direkt nach einer Partie seine Spielzüge erläutert, kann er normalerweise eine Vielzahl brillanter Variationen nennen, zwischen denen er sich entscheiden konnte. Er hat nicht zufällig einen überragenden computerartigen Einfall, der wie durch ein Wunder funktioniert.

Ein informelles Match

Außerdem sollte Carlsen sich nicht weigern, gegen Niemann anzutreten, sondern ihn im Gegenteil zu einem informellen Match herausfordern. Dabei würden zunächst 20 Partien Schnellschach gespielt, bei denen die schnelle Abfolge der Züge einen Betrug extrem schwierig macht, und dann acht reguläre Partien. Die Schiedsrichter dürfen jedes Hightech-Gerät und Verfahren einsetzen, das sie für nötig halten, um Betrugsversuche auszuschließen.

Wenn Niemann sich gut schlägt – also zum Beispiel zwölf Partien Schnellschach und 4,5 bis 3,5 reguläre Partien gewinnt –, müsste Carlsen sich schriftlich entschuldigen und frühere Andeutungen und Anschuldigungen zurückziehen, und Niemann erhielte einen sehr hohen Geldbetrag. Wird Niemann vernichtend geschlagen, ist er als Betrüger entlarvt. Er würde auf die Verleumdungsklage gegen Carlsen verzichten und sich freiwillig für ein Jahr aus dem Schachsport zurückziehen.

Viele wären bestimmt gerne Sponsor eines solchen Matches (dabei denke ich an dich, Elon Musk). Lasst uns die Sache am Schachbrett klären. (Kenneth Rogoff, Copyright: Project Syndicate, 22.10.2022)