Beim Thema Asyl sind sich ÖVP (im Bild Klubchef Wöginger) und die Grünen (im Bild Klubchefin Sigrid Maurer) seit jeher uneins. Nun werfen sie Wöginger Ablenkungsmanöver vor.

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Für eine "Überarbeitung" der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hat sich ÖVP-Klubchef August Wöginger ausgesprochen. Denn man habe mittlerweile eine andere Situation, "als es vor ein paar Jahrzehnten der Fall war, als diese Gesetze geschrieben wurden", sagte dieser im STANDARD-Interview am Freitag und sprach dabei auf die Linzer Krawalle an, die der Debatte rund um Abschiebungen in Länder, in die unter anderem wegen des Folterverbots nicht abgeschoben werden darf, wieder Aufwind gegeben haben. Eine Randnotiz: Unter den neun Verhafteten in Linz befindet sich ein Asylwerber.

Grüne sehen keinen Änderungsbedarf

Dass aus Sicht Wögingers nicht nur das europäische Asylrecht, sondern eben auch die EMRK überarbeitet werden soll, hat am Samstag für scharfe Kritik des Koalitionspartners gesorgt: "Es gibt hier keinerlei Änderungsbedarf", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme der Grünen auf STANDARD-Nachfrage. Die Menschenrechtskonvention sei eine "großartige Errungenschaft der europäischen Staatengemeinschaft und sichert die Einhaltung der Menschenrechte".

Hinter den Forderungen orten die Grünen politisches Kalkül: In ihrer Mitteilung rufen sie die ÖVP auf, "sich an der tatsächlichen Lösung der Probleme zu beteiligen anstatt populistische Ablenkungsmanöver zu starten und die Menschenrechte in Frage zu stellen".

Auch der Sicherheitssprecher der Grünen, Georg Bürstmayr, verweist auf Twitter am Samstag darauf, dass bereits vor zwanzig Jahren versucht wurde, die EMRK zu überarbeiten. Neben kleineren Erweiterungen sei diese jedoch fast ungeschmälert übernommen worden. Sie sei damals wie auch heute notwendig, weil sie den Kern der Europäischen Grundrechtecharta bildet. "Noch vor allem anderen schützt sie Leben und Würde des Menschen an sich. Und die ist nicht verhandelbar", heißt es weiter.

Landau: "Menschenrechte sind unteilbar"

Kritik an den Aussagen Wögingers gab es auch seitens der SPÖ. "Wer über die Änderung der Menschenrechtskonvention fantasiert – & dabei natürlich eine Verwässerung vor Augen hat – hat entweder den Ernst der Bedrohung der Grundrechte nicht verstanden", schrieb Petra Bayr, die SPÖ-Bereichssprecherin für globale Entwicklung, auf Twitter.

Auch der Neos-Nationalratsabgeordnete Johannes Margreiter zeigte sich im Kurznachrichtendienst empört: "Natürlich müssen wir uns ständig mit nötigen Änderungen von Gesetzen, auch der Verfassung beschäftigen! Die #EMRK zur Diskussion zu stellen, rüttelt aber an den Grundfesten des Staates! Das hat die gleiche Qualität, wie Rechtsstaat und Demokratie in Frage zu stellen! Unfassbar!"

"Menschenrechte sind unteilbar. Und die Europäische Menschenrechtskonvention ist Antwort Europas auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Das Rütteln an Grund- und Menschenrechten halte ich für inakzeptabel", betonte Caritas-Präsident Michael Landau in einem Tweet als Reaktion auf den Wöginger-Vorschlag. Durch Wögingers Vorschlag werde "ein Grundkonsens der Zweiten Republik in Frage gestellt. Da geht es um die gleiche Würde des und jedes Menschen vom behinderten Kind bis zum sterbenden Greis. All das ist nicht verhandelbar. Daher muss ein solcher Vorstoß scharf zurückgewiesen werden."

Für FPÖ "fünf nach zwölf"

FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz äußerte sich indes mit Genugtuung und Kritik. Die ÖVP übernehme nämlich "einen Ansatz der FPÖ, für den Herbert Kickl in seiner Zeit als Innenminister skandalisiert worden sei", hieß es in einer Aussendung. "Diese Konvention stammt noch aus Zeiten, in denen eine neue Völkerwanderung undenkbar war. Sie sollte daher an die heutige Zeit angepasst werden [...]", signalisierte Schnedlitz Zustimmung für den Vorstoß Wögingers. Es sei schon längst "fünf nach zwölf".

Der jetzige FPÖ-Chef Kickl hatte schon als FPÖ-Generalsekretär im Jahr 2015 eine Änderung der EMRK oder ihren Ersatz durch eine "Österreichische Menschenrechtskonvention" gefordert. Der damalige Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) reagierte empört. Wer dies verlange, "bewegt sich in Österreich außerhalb des Verfassungsbogens", so Brandstetter damals.

Als Kickl als Innenminister Anfang 2019 neuerlich die Menschenrechtskonvention hinterfragte und dabei meinte, "dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht", wurde er vom damaligen Justizminister Josef Moser (ÖVP) zurechtgewiesen. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen verurteilte Kickls Rütteln an der EMRK. Das "wäre ein Aufkündigung des Grundkonsens der Zweiten Republik", so Van der Bellen damals auf Twitter.

Recht auf Asylverfahren

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie EU-Recht verpflichten die Mitgliedsländer, Menschen das Recht auf ein Asylverfahren zu garantieren und den Grundsatz des "Non-Refoulement" (Menschen, die vor schweren Menschenrechtsverletzungen fliehen, nicht zurückzuweisen) einzuhalten – selbst wenn sie irregulär einreisen. Grenzbehörden müssen also immer eine individuelle Prüfung des Schutzbedarfs vornehmen, wenn die eingereiste Person um Asyl ansuchen möchte.

Im gegenwärtigen Kontext sind die Rufe nach Abschiebung nicht mit Artikel 3 der EMRK vereinbar: Dieser besagt, dass kein Mensch "Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung" ausgesetzt werden darf – in Ländern wie Syrien oder Afghanistan würde das den Menschen drohen.

Die EMRK wurde im Jahr 1950 vom Europarat ausgearbeitet, dem alle europäischen Staaten mit Ausnahme von Belarus und Russlands angehören. Für Österreich hat die EMRK eine besondere Bedeutung, steht sie doch hierzulande im Verfassungsrang. Anders als andere Staaten hat Österreich keinen eigenen umfassenden Grundrechtskatalog. Über die Einhaltung der EMRK wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), eine von der Europäischen Union unabhängige Institution. (Elisa Tomaselli, APA, 12.11.2022)

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Am 13.11. um 11:41 Uhr wurde die Stimme von Caritas-Präsident Michael Landau eingefügt.