Rund tausend Handelsangestellte machten am Mittwoch ihrem Unmut über die Lohnverhandlungen in der Wiener Innenstadt Luft.

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Zum Raufen fange man wohl sicher nicht an. Auch werde sich keiner auf dem Asphalt vor den Geschäften festkleben oder gar Öl verschütten. Zwei rüstige Damen quittieren polizeiliche Anweisungen für korrektes Demonstrieren mit Kopfschütteln. Sie sind gekommen, um für höhere Löhne zu kämpfen. Helden seien sie in Zeiten von Corona genannt worden, sagen sie und bringen sich mit Taferln in Position. "So viele haben uns beklatscht. Jetzt werden wir nur noch abgewatscht."

Es ist zehn Uhr. Die Gewerkschaft hat zu einem Protestzug entlang der Wiener Mariahilfer Straße bis in die Innenstadt gerufen. An die tausend Angestellte des Handels folgten dem Appell zum Protest. "Wir sind keine Schnäppchen", steht auf ihren Plakaten geschrieben. Pfeiferln werden verteilt, Fahnen gehisst und Selfies geschossen. Hits von Bruce Springsteen donnern aus einem Lautsprecher. Die Stimmung heizt sich trotz des kalten Nieselregens stetig auf.

"Ihr steht täglich im Geschäft. Ihr haltet den Laden am Laufen", schallt es von der Laderampe eines kleinen Lasters, ehe sich der Tross in Bewegung setzt. Buhrufe und Pfiffe untermalen das Angebot der Arbeitgeber von vier Prozent höheren Gehältern. "Wir brauchen mehr", skandieren Anheizer und kündigen weitere Wellen an Demos an, sollten Unternehmer kommende Woche am Verhandlungstisch nicht einlenken.

"Dauerhaft höhere Gehälter"

Näher kamen sich die Sozialpartner in den vergangenen drei Runden nicht. Eine kräftige, dauerhaft wirksame Gehaltserhöhung in Höhe von zehn Prozent will die Gewerkschaft ihrem Gegenüber dieses Jahr abringen. Arbeitgeber sehen ihr Limit bisher bei weniger als der Hälfte davon, bieten aber eine einmalige Prämie. "Ich will keine Almosen", sagt Michaela. Die junge Handelsangestellte arbeitet in der Feinkostabteilung einer großen Supermarktkette. Keiner habe sie ersucht, hier mitzumarschieren, stellt sie klar. Betriebsräte habe sie in ihrem Unternehmen bisher noch nie zu Gesicht bekommen. Sie schließe sich dem Zug an, um für ihre Kolleginnen einzutreten. Denn wie diese empfinde auch sie Einmalzahlungen als Verhöhnung.

Die Verkäuferin erzählt von Frauen im Lebensmittelhandel, die nicht wüssten, wie sie ihre Wohnungsmiete weiter zahlen sollten. "Alleinerzieherinnen schieben derzeit Überstunden ohne Ende, um finanziell über die Runden zu kommen."

Dass der Einzelhandel mehr Vollzeitstellen anbietet, als besetzt werden, wie Arbeitgeber betonen, entlockt ihr ein müdes Lächeln. "Dafür müssen aus Sicht der Regionalleiter erst die Filialumsätze passen." Wer länger arbeiten wolle, werde vielerorts an die Kolleginnen verwiesen. "Diese sollten dann im Gegenzug auf Stunden verzichten."

Sie würde gerne im Verkauf bleiben, meint Michaela. Sie sei letztlich aber nicht dazu bereit, nur noch für ihre Strom- und Gaskosten im Geschäft zu stehen.

"Wer tut sich das an?"

Eine Gehaltserhöhung? In den 35 Jahren, die sie für ihren Schuhhändler arbeite, habe sie noch nie etwas über den Kollektivvertrag hinaus erhalten, zieht eine Verkäuferin nüchtern Bilanz. An die offene Geschäftstür gelehnt, verfolgt sie die flott vorbeiziehende Demonstration. "Ganz ehrlich? Wir verdienen Peanuts. Ich würde hier heute mitmarschieren, wenn ich es nur könnte."

Sie putze die Filiale, sie schmücke die Auslage. Am Ende des Tages überlege sie, ob sie statt zwei vielleicht doch nur einen Liter Milch kaufen solle, ergänzt eine Modeverkäuferin.

Zehntausend Handelsbeschäftigte und nicht nur einige Hundert sollten es sein, die für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße gehen, seufzt ein Branchenkollege ein paar Häuserblocks weiter, der die Proteste durchs Schaufenster beobachtet.

Wer im Supermarkt für 25 Stunden die Woche angestellt sei, brauche sieben Prozent mehr Gehalt – "und zwar dauerhaft", ist er sich sicher. Er selbst war Koch. 1400 Euro netto habe er in der Gastronomie für 14-Stunden-Tage Vollzeit verdient. "Wer tut sich so was noch an?"

Ein Verkäufer auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt sich abwägender. Er verstehe die Anliegen der Leute draußen, sagt er und versucht, die dröhnende Musik ("Eye of the Tiger") zu übertönen. "Diese geforderten zehn Prozent mehr Gehalt muss ein Geschäft aber erst einmal erwirtschaften." Was sei, wenn die Inflation wieder sinke?

"Alles, auf das wir jetzt verzichten, fehlt uns bei zukünftigen Lohnrunden", argumentiert ein Betriebsrat, der, in Plakate verhüllt, forschen Schrittes in Richtung Kärntner Ring schreitet. Dass höhere Personalkosten schwächeren Unternehmen das Genick brechen könnten, schließt er nicht aus. Als Bremser bei den Verhandlungen sieht er aber vor allem gut verdienende große Konzerne.

Zweimal stoppt die Truppe, um sich vor "äußerst widerspenstigen Händlern" zur formieren. Passanten rundum zeigen Verständnis. Wer arbeite, solle vernünftig verdienen, sagt ein Ehepaar und erinnert im gleichen Atemzug an Sozialberufe.

"Keine Einmalzahlungen"

Solidarität für Handelsbeschäftigte signalisieren auch Bauarbeiter, die den Grundstein des Luxuskaufhauses Lamarr legen. Auf der Baustelle des Investors René Benko gehen ihre Daumen nach oben. Und so mancher Handwerker lässt aufmunternd seine Armmuskeln spielen.

Erst als die Kolonne beherzt in den Getreidemarkt einbiegt, kippt rundum die Stimmung. Von Fahrspuren verdrängte Autofahrer verlegen sich auf gereiztes Hupen. Vor der Staatsoper dirigieren Polizisten derweil parkende Lkws um. Das Geschäft des Handelsobmanns Rainer Trefelik ist durch Absperrgitter geschützt. Kamerateams versuchen, den Chefverhandler der Arbeitgeber durch Schaufenster hindurch zu filmen. Gewerkschafterin Helga Fichtinger bezieht neben zwei Einkaufswagen Stellung. Noch stehe man im Regen. Doch sie hoffe, dass Unternehmer zur Besinnung kämen, ruft sie mit Blick auf Trefelik. "Die Einmalzahlungen müssen vom Tisch."

Kundgebungen direkt vor seinem Haus zielten auf persönliche Ebenen ab, sagt dieser. "Es ist ein neuer Stil. Jeder soll für sich entscheiden, ob es der richtige ist." Er appelliert einmal mehr daran, das gesamte Angebotspaket zu beurteilen. "Ich kann Brücken bauen. Geht jedoch keiner darüber, dann werden wir im Handel bald Leerstand verwalten."

Einig sind sich Trefelik und Fichtinger nur in einem: Einen offenen Adventsonntag soll es heuer anders als im Vorjahr nicht geben. (Verena Kainrath, 16.11.2022)