Im Gastkommentar widmet sich der Religionswissenschafter Hüseyin I. Çiçek der Frage, wie die Türkei auf den Istanbuler Anschlag reagiert und welche Folgen das haben könnte.

Recep Tayyip Erdoğan in der Vorwoche beim G20-Gipfel.
Foto: AFP / Firdia Lisnawati

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP sind seit längerer Zeit angeschlagen. Die Umfragewerte sinken, und die Talfahrt der türkischen Wirtschaft geht ununterbrochen weiter. Und das, obwohl viele wichtige politische Opponenten inhaftiert, kritische Medien marginalisiert sind und der Rechtsstaat tagtäglich geschwächt wird. Auch haben internationale Kooperationen keine wesentlichen Veränderungen für die türkische Ökonomie herbeiführen können. Der Anschlag in Istanbul am 13. November könnte dazu führen, dass der Fokus von der Ökonomie auf andere Problemfelder gelegt wird. So könnte das Narrativ des "starken islamischen Führers", der sich gegen Feinde im Inland und Ausland durchsetzen muss, vor den Wahlen 2023 wiederbelebt werden.

Videoaufnahmen vom Tag des Bombenanschlags wurden auf vielen Social-Media-Plattformen verbreitet. Viele fragen sich, wie es zu diesem Anschlag kommen konnte und wer für das Gewaltverbrechen verantwortlich ist. Die Regierung ist im Moment vor allem daran interessiert, die Kommunikation innerhalb der Bevölkerung zu kontrollieren oder zu unterbinden. Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK (ebenso die PYD in Syrien) und westliche Bündnispartner, allen voran die USA, werden beschuldigt, durch ihre antitürkische Politik in den Anschlag involviert oder dafür sogar explizit verantwortlich zu sein. Die konkreten Belege für einen solchen Sachverhalt ist die türkische Regierung aber bisher schuldig geblieben.

Alte und neue Feindbilder

Im Moment sieht es so aus, als würde die AKP von den furchtbaren Ereignissen profitieren, vor allem durch das favorisierte politische Narrativ, dass die Etablierung einer "konservativ-muslimischen Demokratie" im türkischen Inland sowie im Ausland abgelehnt werde. Weshalb? Weil ein "starker muslimischer Führer" von der "Welt" nicht akzeptiert wird. Damit einher geht die Überzeugung, wie von der AKP immer wieder suggeriert wird, dass die Islamfeindlichkeit globale Auswüchse angenommen habe. Mit Blick auf die immer näher rückenden Wahlen ist zu beobachten, dass diese politische Vorgehensweise – die Notwendigkeit eines "starken islamischen Führers" – immer mehr von der AKP favorisiert wird, weil dadurch viele Wählerinnen und Wähler im Inland und Ausland mobilisiert werden können. Darüber hinaus werden dadurch alte und neue Feindbilder bedient.

Neue Allianzen

Die Beileidsbekundungen der US-Botschaft in Ankara wurden nach dem Anschlag beispielsweise von Innenminister Süleyman Soylu harsch zurückgewiesen. Die USA hätten "Blut an ihren Händen", weil sie in Syrien bewusst terroristische Gruppen unterstützen würden, die der Türkei schaden wollen. Der Innenminister versucht einmal mehr, die militärische Unterstützung der kurdischen PYD gegen die jihadistische Terrororganisation "Islamischer Staat" durch die US-Streitkräfte als eine der fundamentalen Ursachen hinzustellen, weshalb die Türkei ihren westlichen Bündnispartnern nicht mehr trauen kann. Die PYD sei laut AKP der verlängerte Arm der PKK, die die gleichen politischen Ziele verfolge. Ebenso dient dieses Argument zur Legitimierung von Alleingängen und neuen Allianzbildung des türkischen Staates mit Blick auf die Geopolitik: Stichwort syrischer Bürgerkrieg, Ukraine-Russland-Krieg oder Afrika-Politik.

Interessanterweise verfolgte Erdoğan auf dem Gipfeltreffen der G20 vergangene Woche eine andere politische Strategie. In einer Unterredung mit US-Präsident Joe Biden war Terrorismus zwar ein Thema, jedoch unter anderen Vorzeichen. Der türkische Präsident suchte explizit um Unterstützung und Waffenlieferungen seitens der USA an, damit die Türkei sich auch in Zukunft gegen ihre Feinde verteidigen kann. Gleichzeitig ist die Türkei unter der AKP seit vielen Jahren dazu bereit, wichtigen Köpfen der Hamas Aufenthalt auf ihrem Boden zu erlauben, und widersetzt sich dem Versuch, sie als eine terroristische Organisation zu kategorisieren.

Militärische Reaktion

Die Rückkehr des "starken islamischen Führers" wird mit großer Wahrscheinlichkeit mit neuen Aktivitäten des türkischen Militärs in Nordsyrien inszeniert werden. Am Wochenende gab es erste Luftangriffe auf kurdische Stellungen. Ebenso wird dieses Narrativ dazu genützt werden, die Öffentlichkeit von innenpolitischen Krisen abzulenken, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen und, wenn das nicht hilft, das rechtswidrige Vorgehen gegen politische Gegenspieler damit zu legitimieren. (Hüseyin I. Çiçek, 22.11.2022)