Die längeren Nachspielzeiten bei der WM stellen Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter vor ein Problem: "Es ist zusätzliche Zeit, einen Fehler zu begehen."

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Das Emirat Katar bekommt für seine erfolgreiche WM-Bewerbung so viel Fußball wie noch nie. Beim zweiten Match des Turniers, England gegen Iran, wurden nach den 90 regulären Minuten weitere 27 Minuten und 16 Sekunden nachgespielt. Die vier längsten Halbzeiten der Geschichte von Fußball-Weltmeisterschaften fanden alle am Montag statt. Neben den beiden Hälften bei Englands 6:2-Sieg über den Iran zählen die zweiten Spielabschnitte von USA gegen Wales und Niederlande gegen Senegal dazu.

"Wir werden die Nachspielzeit sehr sorgfältig kalkulieren", kündigte Schiedsrichterlegende Pierluigi Collina, heute Chef der Referees beim Fußball-Weltverband Fifa, noch vor Turnierbeginn an. Die Unparteiischen, die in Katar Spiele leiten, sollen vergeudete Zeit exakter nachholen. Das ist keine Überraschung, sondern Sinn und Zweck einer Nachspielzeit.

"Das Regelwerk besteht schon länger, es wird aber strenger ausgelegt", sagt Andreas Fellinger. Er arbeitet beim Österreichischen Fußball-Bund als Koordinator der ranghöchsten Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter im Land und sagt: "Teams verzögern den Spielfluss bewusst, setzen es als gewolltes Mittel ein. Für den Konsumenten ist das schlecht. Daher tut es dem Fußballsport gut, wenn härter durchgegriffen wird."

Auch ORF-Schiedsrichterexperte Thomas Steiner gefällt die Entwicklung. "In Sachen Fairness geht es in die richtige Richtung", sagt er dem STANDARD. "Spielpausen werden ja ausgenützt, um Zeit zu gewinnen. Die neue Handhabung könnte abschreckend wirken."

Tick

Die Regeln des Fußballs werden vom International Football Association Board geschrieben und entwickelt. Das Gremium hat acht Mitglieder, vier davon stellt die Fifa. Punkt 7.3 sieht vor: Der Schiedsrichter darf ein Match verlängern, wenn Zeit etwa für Auswechslungen, bei Unterbrechungen durch den Videoschiedsrichter (VAR) und für die "Untersuchung und/oder Entfernung verletzter Spieler" verlorenging.

Wenige Minuten vor Ablauf der regulären Spielzeit meldet sich das VAR-Büro. Via Headset teilt es dem Schiedsrichter auf dem Platz mit, wie lange das Match aufgrund von Beratungen mit Videobildern unterbrochen war. Danach addiert der Schiedsrichter in Abstimmung mit dem vierten Offiziellen, der quasi über Spielpausen Buch führt, die Zeit für andere Pausen.

Eine Empfehlung lautet etwa, 30 Sekunden pro Auswechslung aufzuschlagen. Eine Verletzungsunterbrechung wird mit einer Minute eingerechnet. Die Additionen in Katar ergeben ungewöhnlich hohe Summen.

"Es ist auffällig", sagt Fellinger über die langen Nachspielzeiten. "Es wäre interessant zu wissen, wie die Fifa das umsetzt. Stoppt der vierte Offizielle jede Pause wirklich händisch mit?" Alle Teams seien im Vorfeld über das konsequente Vorgehen informiert worden, sagte Fifa-Schiri-Chef Collina, damit niemand "überrascht" ist.

Gleich acht Tore fielen beim 6:2 der Engländer gegen den Iran – das letzte von Irans Mehdi Taremi in der 103. Minute war bei Redaktionsschluss das späteste Tor einer Weltmeisterschaft in regulärer Spielzeit, das seit detaillierter Datenaufzeichnung von 1966 gemessen wurde. Der Treffer des Niederländers Davy Klaassen (90.+9) zum 2:0 gegen Senegal im Spiel danach war der zweitspäteste Treffer.

Tack

Für Schiedsrichter stellen lange Nachspielzeiten ein Risiko dar. "Es ist zusätzliche Zeit, einen Fehler zu begehen", sagt Fellinger. Das Problem: "Die Mannschaft, die mit dem Spielstand zufrieden ist, kritisiert den Schiedsrichter, dass er abpfeifen soll." Solche Situationen entstehen vor allem dann, wenn eine Verletzungspause in die Nachspielzeit fällt. Dann muss es sozusagen eine Nachspielzeit der Nachspielzeit geben – im Ermessen des Schiedsrichters. Die angezeigte Nachspielzeit ist als Mindestmaß zu verstehen, sagt Fellinger.

Ob die strengere Regelauslegung den gewünschten Effekt erzielt – neben einer höheren Nettospielzeit soll es einen besseren Spielfluss geben –, ist fraglich. Es gibt zwei mögliche Szenarien: Spieler merken, dass Zeitschinden strenger geahndet wird, und spielen fortan flüssiger. Oder sie stellen sich schon vor dem Spiel auf längere Matches ein, suchen bei Unterbrechungen eine längere Erholung.

Großereignisse gelten als Maßstab. Dort werden Änderungen ausprobiert und ins Regelwerk aufgenommen. Das Prozedere bei der Nachspielzeit bleibt unverändert, wird aber zumindest in Katar strenger befolgt. Fellinger erwartet im Verlauf des Turniers einen Bericht der Fifa an die nationalen Verbände. Dessen Erkenntnisse seien ausschlaggebend dafür, ob der ÖFB die Auslegung für den österreichischen Fußball künftig übernimmt.

ORF-Experte Steiner: "Während der laufenden Meisterschaft ist es nicht üblich, die Regelauslegung gleich zu ändern. In Zukunft wäre es möglich, dass bei der Nachspielzeit auch andere Gradmesser gelten werden." Er hält außerdem eine Umstellung auf Nettospielzeit, wie sie etwa im Futsal üblich ist, für möglich: "Ich kann es mir für die Zukunft vorstellen, aktuell ist das aber reine Spekulation. In den internationalen Gremien ist das aktuell kein Thema."

Bumm

Katar gegen Ecuador wurde in der 101. Minute beendet. Niederlande gegen Senegal in der 103., England gegen Iran in Minute 118. "Ziel ist, den Zuschauern das größtmögliche Spektakel zu bieten", sagte Fifa-Schiri-Chef Collina. In dem Fall müsste es heißen: das längstmögliche Spektakel. (Lukas Zahrer, 23.11.2022)