Lionel Messi war auch von den Australiern nicht in Schach zu halten, seine Darbietung hätte sich neben einem Tor auch ein bis zwei Assists verdient.

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Einer der 22 Kicker da unten schaut drein, als wäre ihm die Partie völlig egal. Lionel Andrés Messi Cuccittini spaziert mit einer nach außen getragenen Wurschtigkeit über den Platz, dass jede Klischeeversion eines pragmatisierten Beamten stolz darauf wäre. Aber dann, dann trägt ein Teamkollege den Ball nach vorne, und es ist, als würde vom Himmel ein Lichtkegel auf Messi strahlen. Alle wollen wissen, was sich das Genie einfallen lässt. Er läuft sich frei, bekommt den Ball, dribbelt, schaut, seziert, plant, dribbelt weiter, zieht noch zwei Gegenspieler auf sich und legt im perfekten Zeitpunkt ab.

Wann genau diese Szene war? Immer. Die jüngsten Exemplare druckte Messi am Samstagabend. 45.000 Menschen kamen bei Argentiniens 2:1-Achtelfinalsieg im Ahmed-bin-Ali-Stadion in den Genuss einer Erscheinung, wie man sie im Sport nur selten erlebt. Die paar Tausend Australier hätten sich das wohl lieber erspart.

Der Pragmatiker

In seinem 1000. Spiel ließ Messi Kunstfertigkeit mit eiskalter Berechnung verschmelzen. Der 35-Jährige ließ zauberhaften Solos zynisch den optimalen Pass folgen; dass am Ende kein Assist zu Buche stand, war nur himmelschreiender Abschlussinkompetenz der Kollegenschaft geschuldet. "Lautaro Higuain", fluchten zwei Entrüstete in Andenken an Argentiniens einstigen Chancentod, als Lautaro Martinez zum dritten Mal Messis perfekte Vorarbeit in den Himmel schoss.

Messis Tor zum 1:0 konnten weder Mitspieler noch die besten Verteidiger des fünften Kontinents verhindern. Argentiniens Kapitän trug die wacklige Albiceleste auf seinen Schultern, wie er es schon geraume Zeit tut. 1000 Spiele hat der Sohn des Fußballgotts der Welt schon geschenkt. Man sollte für jedes weitere dankbar sein.

Vielleicht ist Messis größte Qualität, dass er das Schöne nicht sucht. Dieser Mensch zaubert nicht um des Zauberns willen; er zaubert nur, um seine Erfolgschancen zu steigern. Können Sie sich an ein Messi-Tor erinnern, bei dem Sie dachten: "Wie ist der denn jetzt reingegangen?" Wahrscheinlich nicht, denn solche Versuche startet er erst gar nicht.

Messi schießt, Messi trifft.
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Messi ist ein Pragmatiker im Kleid eines Hypertalentierten. Er kickt, wie Magnus Carlsen Schach spielt: bereit für einen virtuosen Donnerschlag, aber primär auf der Suche nach der nächsten kleinen Verbesserung der Situation. Wenn das ein kurzes Dribbling ist, um die Verteidigung vor einem unvermeidlichen Rückpass aus der Balance zu bringen, dann ist es eben das. Wenn die Risikoabwägung ein Eins-gegen-eins empfiehlt, weil der Erfolgsfall eine Topchance böte, der Ballverlust aber nicht wehtut, dann wird der Ballstreichler das Duell suchen.

Geniales Kalkül

Zum großen Glück der Fußballwelt ist das Schöne dank Messis einmaliger Gaben oft auch das Richtige: Er schüttelt mit Laserpräzision Steilpässe aus dem Fußgelenk, zwirbelt Schüsse vom Sechzehner ins Kreuzeck oder geht samt Magnetball an drei Statisten vorbei. Vor allem die Dribbelkunst ist spätestens seit seinem legendären Tor gegen Getafe 2007 ein Markenzeichen. Andere Kicker behindert der Ball beim Laufen. Sie müssen ihn sich vorlegen, um auf Topspeed zu kommen, vielleicht spielen sie gar für einen Doppelpass ab. Das sind Dinge, die Sterbliche tun. Messi geht einfach dorthin, wo er möchte. Der Ball kommt sowieso mit.

FC Barcelona

Aber Messis Vermächtnis ist weder sein himmelschreiendes Talent noch seine nicht zu verteidigende Gewandtheit – es ist das, was er daraus macht. Analog zu seiner gnadenlosen Rationalität ist auch eingangs erwähnte Spaziererei keine Laune. Messi teilt sich seine Kräfte ohne Rücksicht auf die Außenwirkung ein und nutzt den Leerlauf zum Beobachten. Gejoggt wird nur, wenn es Räume aufzureißen oder den Ball zu holen gilt; zu sprinten beginnt er sowieso erst, wenn es sich richtig auszahlt. Und das tut es, wieder und wieder. (Martin Schauhuber aus Al Rayyan, 4.12.2022)