Schau mir in die Augen, Kleiner: Jordan Henderson wusste, wem der Dank für sein erstes Tor bei einer WM geschuldet war – dem überragenden Jude Bellingham.

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Seit Gareth Southgate das englische Team selektioniert, aufstellt und anleitet, ist England wie ausgewechselt. Der 52-Jährige beendete den inseltypischen Dampfkraft-Fußball. Und ersetzte ihn durch eine moderne, dem High-Level-Kick der Premier League entliehene Spielanlage.

Kann gut sein, dass es hilfreich gewesen ist, vorerst einmal recht unbedrängt und unauffällig sein Traineramt bei Middlesbrough abgedient zu haben. Er wechselte in die U21 des Verbandes. 2016 kam der Ex-Internationale zum Einserteam und nahm die Lehren der Jungen – "Lass uns spielen, Trainer!" – mit.

2018 in Russland kamen Southgate und die Boys ins Halbfinale, im Vorjahr erreichten sie bei der Europameisterschaft das Finale. Erst im Elfmeterschießen konnte sich Italien durchsetzen.

Geheimtipp

Jetzt steht erst einmal der Weltmeister auf dem Programm. Frankreich gilt als hoher Favorit fürs Finale und hat seine Favoritenrolle bisher eindrucksvoll unter Beweis gestellt. England, das schon im Vorfeld als ein Geheimtipp gehandelt wurde, immerhin seine Stabilität. Aber das ist so eine Sache: Ein Geheimtipp war Belgien auch. Und Deutschland – aber Deutschland, ach!

Daheim auf der komischen Insel ist Southgate erstaunlicherweise immer noch umstritten. Und auch wenn man weiß, dass dort, wo der Spleen gedeiht, die Umstrittenheit ebenfalls gerne wuchert, wundert es doch ein wenig. Die in Russland und bei der europaweiten EM gereifte Mannschaft war das Beste, das man seit langem gesehen hat.

Die Truppe rund um – oder hinter – Harry Kane hat keineswegs die alten englischen Tugenden vergessen. Es hat sie bloß ums notwendig Neue ergänzt. Weiterhin beherrschen John Stones oder sein Sechser Declan Rice den weiten Pass. Aber es wird kein wilder Kick and Rush daraus.

Man beherrscht auch immer noch den wuchtigen Flügellauf. Die Rempelresilienz ist den neuen Engländern auch weiterhin nicht fremd. Aber einer wie Jude Bellingham bringt jene spielende und spielmacherische Brillanz ins englische Spiel, die es braucht, um überhaupt daran denken zu können, gegen Frankreich unverzweifelt in die Schlacht zu ziehen.

Kane hat allerdings – mit Verlaub, das ist jetzt nur eine unschuldige, wenn auch martialische historische Anspielung – den Langbogen bereits eingeschossen. Er traf kurz vor der Pause zum 2:0. Henderson traf zum 1:0. Bukayo Saka finalisierte zum 3:0 bald nach der Pause.

Kane gab das Lob, das ihm als "Man of the Match" umgehängt wurde, umgehend an Bellingham weiter. Der erst 19-Jährige von Borussia Dortmund schlägt den Rhythmus, nach dem die drei Löwen sich bewegen.

"Er ist einer der besten Youngsters. Er ist ein fantastischer Spieler und hat alles, was es braucht", sagte Kane. Midfielder Phil Foden ergänzte: "Ich denke, er kann der beste Mittelfeldspieler der Welt werden." Freilich: Verschrien ist bald was!

Goalie-Lob

Denn bei allem Jubel und Trubel: Vergessen sollte man doch nicht die erste halbe Stunde gegen Senegal, dem mit Sadio Mané immerhin der Größte gefehlt hat. Der Afrikameister drückte. Kam zu schönen Chancen. Wäre den Burschen des so markant agierenden Coaches Aliou Cissé in dieser Phase ein Tor gelungen: Wer weiß? Aber ganz hinten stand halt Jordan Pickford. Wahrscheinlich ist das die wesentlichste Neuerung. Dass der englische Tormann einer ist, vor dem die Vorderleute keine Angst haben müssen.

England hat auch noch einen Talon. Raheem Sterling war gegen Senegal nicht dabei. Frau und Kind waren daheim Opfer eines bewaffneten Einbruchs. Er reiste ab. Ungewiss ist es, ob der Chelsea-Star gegen Frankreich dabei sein kann.

In jedem Fall wartet jetzt die große eigentliche Prüfung. Southgate: "Das ist der größte Test, der uns erwarten kann. Sie sind Weltmeister, sie haben Tiefe, sie haben Talent, sie haben herausragende Spieler." (Wolfgang Weisgram, 5.12.2022)