Alexander Keppel im Gastblog über unzivile Kleidung in den Epizentren der Zivilisation.

Kalte Jahreszeit heißt immer öfter auch Softshell-Zeit. Sobald die Temperaturen seriöser sinken und die Blätter fallen, kommt sie wieder aus Kästen und Schränken – die Funktionsmode. Das ist auch erst mal nicht so schlimm, doch hat sie sich wie Fuchs und Wildschwein aus ihren angestammten Revieren auf weiter Flur längst ins Innere der Großstädte durchgefressen. Doch wie kommt der moderne, urbane Mensch eigentlich dazu, sich in der Stadt, für das Umsteigen zwischen Straßen- und U-Bahn, so zu gewanden, als hieße der nächste Halt Himalaja-Basecamp?

Draußen zu Hause?

Ich erinnere mich noch gut, wie ich irgendwann in den Zweitausendern zum ersten Mal in einem Jack-Wolfskin-Katalog blätterte. Allein das Logo der Marke, der wölfische Tatzenabdruck, suggeriert Selbstüberwindung, Abenteuer, Natur, aber auch die Beherrschung Letzterer durch gute Vorbereitung und entsprechende Investition. Die im Katalog gezeigten akademisch wirkenden Paare und Kleingruppen um die dreißig, in ihren dicken, bunten, wertigen Jacken, Hosen, Mützen und Zelten, vermittelten schon auf dem Papier einen Hauch Freiheit und respektvoller Ernsthaftigkeit gegenüber der Natur. Je nach Kulisse waren sie als Polarforscher, Meeresbiologen oder mindestens Lonely-Planet-Autoren unterwegs. In ihren Blicken lag auch immer ein Quäntchen Verwegenheit, das direkt von ihrem Gewand in ihre Gesichter überzufließen schien. "Draußen zu Hause" lautete der Wolfskin-Claim.

Ein Hauch von Zivilisationsmüdigkeit?
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Allerdings hat sich sowohl die Marke als auch der ganze Markt für Funktionsmode während der letzten zwanzig Jahre stark ausdifferenziert. Die Produktpalette lässt von der vermeintlich nordpoltauglichen Daunenjacke über das einfache Baumwollshirt hin zur Kleinkindhaube keinen Bedarf mehr unbefriedigt. Aus echter Funktion ist längst Brand-Statement geworden. Auch der Mitbewerb hat sich ins Unübersichtliche multipliziert. Heute scheinen alle "draußen zu Hause" sein zu wollen, auch in der Großstadt – zumindest im übertragenen Sinne. Selbst die Discounter führen schon Eigenmarken für Outdoor-Wear. Man präsentiert sich in wetterfester Weltgewandtheit, zeigt sich als Reisende in ungewöhnliche Gegenden, an die Ränder eines Planeten, der keine mehr hat. Nicht als Tourist natürlich – denn das sind immer die anderen – sondern als weltoffene Forscherin, als Entdecker, als Aficionado des Anderen. "Schaut her!", ruft es weiter, "Ich kann es mir leisten zu reisen! Ich fülle meine Speicher mit Eindrücken, die mir niemand mehr nehmen kann!"

Die Unschuld des Pragmatischen

Warum wollen sich die Leute wie in der Wildnis einpacken, wenn sie am Alexander- oder Karlsplatz nach Feierabend durch die Geschäfte und Öffis huschen? Was veranlasst sie dazu, sich in den Epizentren der Zivilisation – den Metropolen – in derlei unziviles Gewand zu kleiden, als kämen sie geradewegs aus dem Unterholz oder vom Gipfel?

In Zeiten, in denen man, zumindest in Westeuropa, mit Porsche und Rolex niemand mehr unbeschränkt beeindrucken kann, scheint diese modische Geste auch aus einem weiterhin bestehenden Bedürfnis nach, nun postmaterieller, Abgrenzung zu erwachsen. Könnte hinter jener auf den ersten Blick unschuldigen, abenteuerlustigen Kleidung auch ein Hauch von Zivilisationsmüdigkeit liegen? Sind die Innenstädte längst die neue Wildnis, die neuen Kampfzonen? Haben Wollmantel, Duffle-, oder Peacoat als Fashion-Statement einer Schicht ausgedient, die in den besseren Stadtquartieren lebt und es sich leisten kann, im Hybrid-SUV auf lange Outdoor-Trips zu gehen?

Von Cultural Appropriation zu Cultural Handover?

Wie eigentlich immer geht es auch hier ums Gefühl. Die Bürgerlichkeit, die vor nicht allzu langer Zeit noch mit einem englischen Wollmantel oder einer gewachsten Barbour-Jacke zum Ausdruck gebracht wurde, ist als modische Haltung in unseren vermeintlich aufgeweckten und inklusiven Zeiten kaum mehr ungebrochen vermittelbar. Modehäuser wie Barbour oder Burberry können ihren Upper-Class-Markenkern nur mehr durch den massiven Einsatz von Models of Color legitimieren. Kraft derer werden dann fiktive Aufsteigergeschichten erzählt hinter denen sich die ursprüngliche Klientel einer weißen, liberal-bürgerlichen Oberschicht in einer zweifelhaften Rolle als enabler ebenjener success stories inszeniert.

Von woken Masochismen durchdrungen geht jenes Milieu in seiner neuen Rolle als vermeintlich schambeladene Platzmacher geschlossen in die Unsichtbarkeit und betreibt mit dem inszenierten Verzicht auf vermeintliche Privilegien einen so faulen wie durchschaubaren Ablasshandel. Die PoCs sollen’s nun wieder mal richten und den Prep-Country-Style abtragen, den der kundige kaukasische Postkolonialist nicht mal mehr mit Expeditionshandschuhen anfassen möchte. Anstatt Cultural Appropriation erleben wir hier Cultural Handover. Was jenen Selbstgeschassten abseits des postironischen Humana-Styles an ästhetischen Reserven noch bleibt, ist dann eben der pragmatisch-funktionale, antimodische und wetterfeste Anpacker-Look. Statt Amt und Würden soll nun ein postmaterieller Pragmatismus zur Schau gestellt werden.

Leider können (und wollen) sich diesen aber eben auch nur jene leisten, die auch anders könnten und nicht aus dem Mangel kommen. Dort gilt nämlich nach wie vor: More is more. Die Auswüchse des Phänomens Outdoor-Gear in den Innenstädten sind vornehmlich innerhalb eines autochthonen, linksbürgerlichen, urbanen Milieus auszumachen. Bei Migrantinnen und Migranten – auch den Wohlhabenden – trifft man derartige Monturen eher selten an. Mag es daran liegen, dass man außerhalb der "Zeit"- oder "Geo"-Abo-Blase das, was man sich erarbeitet und was man erreicht hat, auch noch gerne zeigt? In den communities, wie es neudeutsch so schön heißt, ist less vielleicht immer eher einfach nur less? Nach meinen Beobachtungen, nicht nur als Ex-Neuköllner und Teilzeit-Ottakringer, eindeutig: Ja. Wer kann, der hat ist eher gelebte Praxis auf zum Beispiel der Sonnenallee oder der Thaliastraße.

We are at war

Abseits davon ist im Funktionsgewand noch eine weitere Dimension angelegt, nämlich eine militärische: Der Schritt zu modernen Kampfanzügen ist in Schnitt und Material der Functional-Gear nur noch ein kleiner. Gerade in der medialen Omnipräsenz diverser Kriege und einer Vielzahl postapokalyptischer Serien und Filme ist es nicht verwunderlich, dass eine dominante modische Stoßrichtung momentan functional bis tactical ist. Man denke nur an die täglichen Ansprachen des ukrainischen Präsidenten in olivgrüner Softshell-Jacke oder im Technical Shirt als Fashion-Statement: "No time for ties and bullshit. We are at war!" Nur er, Herr Selenskyj, und die Ukraine sind es eben leider wirklich.

Ausdruck antibürgerlicher Neubürgerlichkeit

Kritischer Hauptaspekt bleibt allerdings jene widersprüchliche antibürgerliche Neubürgerlichkeit, die getarnt als antimodische Geste in der Unschuld des Pragmatischen darauf lauert, zwischen U1 und U4 jemanden in einem Woll- oder besser noch Pelzmantel zu erwischen. Und das kann es doch nicht sein! Also liebe Leserinnen und Leser: Gönnen Sie sich ein paar schöne, elegante Teile für die Stadt und behalten Sie ruhig auch Ihr Zeug von Nordgesicht, Wolfshaut und Co, aber tragen Sie es doch bitte – so wie ich – vor allem dort, wo es hingehört – auf dem Berg und im Wald. (Alexander Keppel, 13.12.2022)