So viel Aufregung und große Worte gab es in Zusammenhang mit Migrationspolitik und dem in EU-Verträgen fest verankerten Schengen-Raum ohne Grenzkontrollen lange nicht mehr.

Von einem "schlechten Tag für Europa" sprach die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Aus Rumänien hagelte es Boykottaufrufe Richtung Wien. Die Senatspräsidentin in Bukarest warf der Bundesregierung eine "feindliche Haltung" gegenüber ihrem Land vor.

In Österreich sah die liberale EU-Abgeordnete Claudia Gamon Österreich "endgültig im europapolitischen Aus". Und sogar Bundespräsident Alexander Van der Bellen sah sich bemüßigt, via Twitter zu erklären, er "bedaure die Entscheidung der österreichischen Bundesregierung, den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens zu blockieren, außerordentlich". Eine ungewöhnliche Einmischung in die Tagespolitik.

Nur aus Bulgarien kamen auffallend wenige kritische Stimmen, was damit zusammenhängen mag, dass gerade bekannt wurde, das Land betreibe geheime Gefängnisse für Migranten, in denen sie nicht wie Menschen behandelt werden. Die EU-Kommission schweigt dazu.

Was ist da also geschehen im EU-Innenministerrat? Rein formal gesehen haben Österreich und die Niederlande gegen die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in die Schengen-Gruppe gestimmt. Von einem "Veto Österreichs", wie der grüne Vizekanzler Werner Kogler sagte, also keine Rede.

Der Buhmann im Schwarzen-Peter-Spiel der EU: die ÖVP und Innenminister Gerhard Karner.
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Taktischer Fehler

Es gab zwei Nein-Stimmen. Die EU-Kommission hatte bereits 2011 (!) den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zu Schengen empfohlen. Der Rat befasste sich in elf Jahren 16 Mal damit, lehnte es aber immer ab, weil es um Korruptionsbekämpfung und Justiz nicht so gut bestellt war. Der tschechische EU-Vorsitz machte nun zudem den taktischen Fehler, über beide Länder im Paket abzustimmen. So scheiterte Rumänien "mit". Kroatien hingegen darf sich freuen und ab 1. Jänner 2023 die Schlagbäume an den Grenzen räumen.

Der Buhmann im großen Schwarzer-Peter-Spiel der EU-Regierungen und Mitgliedsstaaten um weitere Vertiefung der Union ist Österreich, genauer gesagt: die ÖVP und Innenminister Gerhard Karner.

Er begründete sein Nein-Votum damit, dass "Schengen gescheitert" sei, er wegen der galoppierenden Zunahme illegaler Grenzübertritte im Jahr 2022 auf die Bremse habe steigen müssen. Da ist etwas dran. Mehrere EU-Staaten, auch Deutschland und Österreich, führen seit 2015 Grenzkontrollen durch.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat beim EU-Balkangipfel in Tirana vor einigen Tagen auch erstmals offen eingeräumt, dass Österreich vom Zustrom illegaler Migranten ganz besonders betroffen ist. Aber sie unternimmt nichts gegen Ungarn, das Migranten übel behandelt und EU-Recht bricht. Nur insofern kann Karner sich bestätigt fühlen.

Aber seine Verweigerung ist gleichzeitig auch verlogen. Aus Rumänien kommen nur relativ wenige Migranten Richtung Westen. Karners Paukenschlag war taktisch begründet. Er erinnerte die EU-Partner penetrant daran, dass man gemeinsam in der Asyl- und Migrationspolitik seit vielen Jahren kaum etwas Konstruktives zusammengebracht hat. Schuld sind immer "die anderen".

Dass Politik mit dem diplomatischen Holzhammer klug war, darf bezweifelt werden. Es ist nicht gut, wenn ein kleines mitteleuropäisches Land mit seinen Nachbarn und Partnern im Clinch liegt. (Thomas Mayer, 9.12.2022)