Die Katara Towers am Südende Lusails sind auch aus Doha gut zu sehen. Der Großteil der Skyline wurde erst in den vergangenen fünf Jahren gebaut.

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Zwischen den "Zigarettentürmen" hängt ein Walhai, ...

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im Innenhof des Place Vendôme spielt sich das Leben ab.

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Nächtens ist auch auf den Straßen etwas los, ...

... vor allem wenn wie am Sonntag ein Match im Lusail Stadium stattfindet.

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Der Weg in den katarischsten Ort Katars führt direkt am Finalstadion vorbei. Die Endstation der roten Metrolinie spuckt Fahrgäste direkt auf den Vorplatz des imposanten Lusail Stadium, dessen Opferzahlen man sich kaum ausmalen mag und in dem erst diese Woche ein kenianischer Wachmann zu Tode stürzte. Die 89.000er-Arena steht am Ende des Lusail Boulevard, der führt zu den Lusail Towers. Wir befinden uns in, das sollte keine Überraschung mehr sein: Lusail.

Wo heute eine Stadt mit mehreren Hochhausvierteln steht, war lange gar nichts. Gut, 1908 schrieb der britische Diplomat J. G. Lorimer von einer Ansiedlung mit drei Brunnen mit brackigem Wasser, 50 Stein- und Lehmhäusern sowie 20 Pferden und 70 Kamelen, beim Baustart 2006 bestand Lusail aber nur mehr aus einem Funkmast, einer Zementfabrik und drei Bauernhöfen. Lusail ist eine Planstadt aus dem Lehrbuch der Weltenformer – und einer der wenigen Orte in Katar, wo auch Ausländer Immobilien kaufen dürfen.

Dauerbeschallung

Vorbei am Stadion sieht man, dass hier noch nicht alles fertig ist. Ein Rohbau ist hinter Plastikplanen versteckt, während der WM wird daran nicht gearbeitet. Hundert Meter weiter lockt der Boulevard mit arabischem Pop, der klingt wie der misslungene Cousin eines eh schon nicht besonders gelungenen WM-Songs. Immerhin ist er laut. Also rauf auf die Flaniermeile, rein in den Rausch!

Der Rausch entpuppt sich als Flausch. Neben einem kleinen TV-Studio von Al Jazeera und einer furchteinflößenden Fünf-Meter-Version des Maskottchens La’eeb empfängt den Besucher Leere. Es ist ein Nachmittag zu Beginn der K.-o.-Phase, bis zum ersten Match sind es noch viele Stunden, es hat zauberhafte 26 Grad, aber in den üppigen Außenbereichen der Restaurants sitzt niemand. Auch über die für Autos gesperrte Straße spazieren nur wenige Verirrte, die aus in regelmäßigen Abständen platzierten Lautsprechern ballernde Musik schafft so eine seltsam widersprüchliche Atmosphäre.

Lusail ist hypermodern. In Doha gab es bis 2019 nicht einmal eine Metro, der direkt an den Nordrand der Hauptstadt gepflanzte Bruder wurde mit besseren Öffi-Verbindungen geplant. Die neben der Straße verlaufende Tram fährt während der WM nur einen Teil ihrer Strecke, quer über den Boulevardabschnitt sind Kabel verlegt. Fahrgäste gäbe es ohnehin kaum. Ein Percussionist hat mehr Instrumente als Zuhörer vor sich stehen. Dreieckige Tücher aus den Flaggen der WM-Teilnehmer beschatten den insgesamt achtspurigen Boulevard. Während sich vorbei an austauschbaren Shops und Cafés die sogenannten Zigarettentürme am Ende des Boulevards nähern, tut sich auch etwas mehr auf der Straße. Rund 20 Schaulustige erleben eine denkwürdige Performance: Sieben Männer und fünf Frauen tanzen, vier Männer trommeln, einer singt – und einer spielt Dudelsack. Der einigermaßen verwirrte Österreicher wird aufgeklärt: Sie sind aus dem Oman, und ja, dort spielt man Dudelsack.

Am Ende des Boulevards ist ein großer, beschatteter Platz, links und rechts sind hoch aufragende Stiegen, es fühlt sich an wie ein auseinandergezogenes Amphitheater. "Lonely together" singt Rita Ora aus dem Lautsprecher. Lonely geht hier leicht, together ist schwierig. Man kann sich mit dem Blick auf eine übergroße Walhai-Installation trösten, die über dem Ende des Boulevards schwebt. Noch einmal rauf über eine Stiege, dann sieht man endlich das Meer. Davor thront der für den Audioterror verantwortliche DJ auf einer Burg aus LED-Würfeln.

Jenseits der Bucht winken die halbfertigen Hochhäuser des Qetaifan Island, ursprünglich Festland, das von künstlich gegrabenen Kanälen zur Insel gemacht wurde. Ein Ausflug dorthin scheint kaum verlockend, also geht’s nach rechts auf die blitzsaubere Strandpromenade. Hier ist immerhin die Musik aus. Hie und da schaut ein Arbeiter in Warnweste gelangweilt auf sein Handy, das einzige Leben geht von einem Burschen in Argentinien-Trikot aus, der seinem Vater davonläuft und dessen Zurückpfeifen winkend ignoriert.

Natürlich eine Mall

Es folgt eine Viertelstunde totale Einsamkeit – noch einmal: es ist weder heiß noch sonst irgendwie ungut –, erst an der Kreuzung Street 356/Street 359 bekommt man wieder Menschen zu Gesicht. Hier tut sich auch schon eine Front an klobigen Palästen auf: Waldorf Astoria, Royal Méridien, Place Vendôme. Anders als in Paris ist Letzterer hier ein übergroßes Einkaufszentrum. Auch viele französische Läden machen hier Reibach – kleine Erinnerung: Es war Katars Deal mit Frankreich, der diese WM erst verursacht hat.

Wer große Zahlen liebt, kommt im Place Vendôme besonders auf seine Kosten: Dank des Wechselkurses – ein Euro ist fast vier Riyal – kann Schmuck auch mal siebenstellig sein. Und genau hier sind all die Menschen unterwegs, die an der frischen Luft vermisst werden. Die Gäste haben sich den lokalen Gewohnheiten angepasst. (Martin Schauhuber aus Lusail, 16.12.2022)