Heftige Diskussionen beim Rat der Innenminister in der Schengen-Frage: Der tschechische Ratsvorsitzende Vít Rakušan (Mi.) versucht vergeblich, zu vermitteln.
Foto: EPA/Olivier Hoslet

Achter Dezember, später Nachmittag, Ende des EU-Innenministerrats, Brüssel. Nach dem Scheitern einer Kompromisslösung und dem Veto Österreichs gegen einen Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens schickt sich Gerhard Karner an, das Ratsgebäude zu verlassen. Am Rande des roten Teppichs im riesigen Foyer im Erdgeschoß, über den bei EU-Gipfeln auch die Staats- und Regierungschefs schreiten, warten Journalisten, um Statements der Minister einzuholen.

Der Österreicher stellt sich nicht vor die wartenden Berichterstatter. Etwas abseits gibt er nur dem ORF ein kurzes Interview, das am Abend in der ZiB 1 gesendet werden wird. Dabei zeigt sich ein Grundproblem – nicht nur des Innenministers – bei Auftritten österreichischer Regierungsmitglieder auf EU-Ebene: Kommunikationsschwäche.

"Ein Fehler, nicht professionell"

Karner spricht nur Deutsch, er begnügt sich damit, seine Argumente für den heimischen Gebrauch im Fernsehen zu liefern. Noch während ihn der ORF befragt, laufen rumänische Journalisten auf ihn zu. Karner beendet das Interview, sagt noch kurz zur Migration: "Es braucht endlich konkrete Maßnahmen in diesem Bereich, das verlangen wir, das muss kommen." Dann dreht er sich um, verlässt schnellen Schrittes den Raum. "Herr Karner, glauben Sie, das Sie etwas Gutes gemacht haben, indem Sie gegen Rumänien stimmten?", ruft ihm jemand auf Englisch nach. Ein anderer Journalist fällt ein: "Haben Sie eine Botschaft für Rumänien?" Eine rumänische Journalistin ergänzt: "Für die Menschen in Rumänien?" Der Innenminister ignoriert die Fragen. Er dreht sich nicht mehr um.

"Ein Fehler, nicht professionell", findet ein Diplomat. Hätte Karner etwa auch nur seinen Respekt vor den EU-Mitbürgern in Rumänien zum Ausdruck gebracht, gesagt, dass man an einem realen Problem arbeiten wolle, er hätte Druck aus der Sache genommen. So aber legt die rumänische staatliche Medienbehörde bei der österreichischen Botschaft in Bukarest Protest ein – so könne man nicht mit Journalisten umspringen. Sogar deren "Entfernung" durch Leibwächter des Ministers wird kolportiert.

Europaweiter Aufschrei

Es bleibt nicht nur bei diesem Aufschrei. Die österreichische Botschafterin Adelheid Folie wird ins Außenamt in Bukarest zitiert. Der rumänische Botschafter in Wien, Emil Hurezeanu, wird zu Konsultationen nach Bukarest gerufen. Wie rumänische Medien am Freitagabend unter Berufung auf Regierungskreise berichteten, ist mit seiner Rückkehr erst dann zu rechnen, wenn Wien in der Angelegenheit der Schengen-Erweiterung den Kontakt zu Bukarest sucht. In rumänischen Zeitungen werden zudem Boykottaufrufe gegen österreichische Unternehmen abgedruckt.

Dabei bestreitet niemand, dass es tatsächlich ein Problem gibt. Europas Südostgrenze ist durchlässig, viele Menschen auf der Flucht oder der Suche nach einem besseren Leben machen sich auf den Weg – und viele werden erst in Österreich aufgegriffen und registriert.

Mehr als 110.000 Menschen haben allein 2022 in Österreich Asyl beantragt. Knapp 40 waren es in Ungarn. Der österreichische Innenminister steht unter Druck, die Ankömmlinge unterzubringen. Anfang November ließ Gerhard Karner in einigen Bundesländern Zelte aufstellen – was wiederum innenpolitisch für gehörigen Wirbel sorgte. Seither saugt sich die Kanzlerpartei ÖVP am Thema "illegale Migration" fest – dem einstigen Kassenschlager von Sebastian Kurz.

Österreich am Pranger

Nicht ganz eine Woche nach Karners Njet tagt das EU-Parlament in Straßburg – Österreich steht am Pranger. Karner und Bundeskanzler Karl Nehammer wird vorgeworfen, die EU zu spalten und das Geschäft Wladimir Putins zu betreiben. Von einem "Geschenk an Putin" spricht Innenkommissarin Ylva Johansson. Der Deutsche Manfred Weber, wie Nehammer ein Christdemokrat, bezeichnet das Veto als "Fehler". Ja, es gebe ein Problem mit Migration. Ja, die Aufnahmezentren in Österreich, Deutschland, Belgien und den Niederlanden seien voll. Aber das sei nicht die Schuld Rumäniens und Bulgariens. Der richtige Adressat für den Unmut wäre Ungarn gewesen, sagt Weber. Doch mit Ungarns Präsident Viktor Orbán lässt sich Nehammer gern in freundschaftlichen Posen fotografieren.

Österreichs Kanzler Karl Nehammer sieht sich selbst als glühender Europäer. In der Frage "illegaler Migration" wollte er auf europäischer Ebene eine Marke setzen.
Foto: Heribert Corn/AP/APA/EPA

Die Regierung hat sich mit dem Schengen-Nein in der europäischen Familie sehr weit rausgelehnt. Zu weit? "Das war schon brutal", sagt ein Vertreter aus Deutschland.

Doch die Holzhammermethode auf diplomatischem Parkett brachte auch einen Teilerfolg: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erkennt an, dass Österreich besonders stark betroffen ist. Sie kündigt einen Aktionsplan für die Balkanroute an, um irreguläre Migration einzudämmen. Die Erweiterungsabstimmung über Rumänien und Bulgarien wird wiederholt werden – spätestens im kommenden Herbst. Viel spricht dafür, dass dann auch Österreich dem Schengen-Beitritt zustimmen wird.

Frage nach dem Warum

Was bleibt, ist das Gefühl eines Vertrauensbruchs – bei vielen EU-Ländern und auch Beitrittswerbern. Hat Österreich seine Rolle als verlässlicher Partner verspielt? Das Land sieht sich gerne als Brückenkopf zwischen Ost und West und Vermittler zwischen der EU und den Westbalkanstaaten, die einen EU-Beitritt anstreben. Wie glaubwürdig ist Österreich da noch ? Warum das alles? Und vor allem: Hat es etwas gebracht? Viele europäische Parlamentarierinnen und Parlamentarier waren beim Plenum in Straßburg unverblümt in ihrer Einschätzung. So etwa der deutsche Liberale Jan-Christoph Oetjen: "Österreichs Haltung ist schäbig und hat ausschließlich innenpolitische Motive."

Was damit gemeint ist? Die naheliegendste Erklärung, die auch von den meisten Kritikern im Inland bemüht wird, ist die niederösterreichische Landtagswahl am 29. Jänner. Das flächengrößte Bundesland ist konservatives Kernland. Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner war maßgeblich daran beteiligt, Nehammer zum Kanzler zu machen. Innenminister Gerhard Karner, ein stolzer Mostviertler und Langzeit-ÖVP-Mann, wurde von Mikl-Leitner in die Bundesregierung entsandt.

Im Jänner geht es für die niederösterreichische ÖVP um alles: Mehrheit halten, Macht absichern, der schwer beschädigten Partei nicht die nächste Schlappe verpassen. Denn die Probleme der ÖVP sind vielschichtiger als nur eine Landtagswahl mit schlechter Prognose.

Schwierige Phase

Vermutlich durchlebt die Volkspartei eine der schwierigsten Phasen ihrer Geschichte. Nach innen ist die ÖVP mit Korruptionsvorwürfen belastet. Nach außen ist sie mit multiplen Krisen konfrontiert: Pandemie, Krieg in Europa, Energiekrise und Teuerung. Und trotz zahlreicher Unterstützungspakete mögen sehr viele in Österreich Karl Nehammers Politik nicht: Er ist Chef der unbeliebtesten Regierung aller Zeiten – zumindest, wenn man den Umfragen glaubt. Derzeit rangiert die ÖVP auf Platz drei, hinter SPÖ und FPÖ.

Der Druck, unter dem Nehammer im Inland steht, führt immer wieder dazu, dass er sich auf dem internationalen Parkett zu beweisen sucht – sei es durch den Besuch bei Putin gleich zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, sei es durch Treffen mit nicht eben lupenreinen Demokraten wie Ungarns Viktor Orbán oder Serbiens Präsident Aleksandar Vučić.

Diese Gemengelage für Nehammer – Druck von innen und außen – führte letztlich auch zur Blockade des Schengen-Beitritts von Rumänien und Bulgarien, das zeigt der Verlauf der Geschichte.

Unsichere Freundschaften

Im Jänner dieses Jahres gibt Innenminister Karner seinem rumänischen Amtskollegen Lucian Bode persönlich die Zusage, dass Österreich den rumänischen Beitritt zu Schengen unterstütze. So erzählt es zumindest Bode. Österreich gilt in Rumänien seit Jahren als Freund. Niemand in der rumänischen Regierung rechnet damit, dass Österreich Probleme bereiten könnte.

Zwischen Juli und Mitte November kommt es zu 27 bilateralen Treffen zwischen rumänischen und österreichischen Regierungsvertretern. Bei keinem einzigen soll Österreich Einwände gegen den rumänischen Beitritt geäußert haben, heißt es aus Rumänien.

Die Erzählung der österreichischen Regierung klingt anders. Schon im Mai beginnt Karner, vor illegaler Migration zu warnen, er kündigt eine "Aktion scharf" gegen Schlepperei an. Im Juli plädiert der Innenminister für ein Abschiebemodell nach britischem und dänischem Vorbild – ohne die Möglichkeit, in Österreich Asyl beantragen zu können. Dazwischen lag der Tod der 13-jährigen Leonie, der viele Menschen in Österreich empörte. Das Mädchen war von drei jungen Afghanen unter Drogen gesetzt und mehrfach missbraucht worden. Als sie starb, half ihr niemand. Gerade wurden die drei Männer zu langen Haftstrafen verurteilt.

Ein Zeichen wird gesetzt

Auch in der ÖVP war die Aufregung damals groß – es sollte ein Zeichen gegen Kriminelle mit Migrationshintergrund gesetzt werden. Viele Monate später wird bekannt, dass Österreich und Deutschland damals – kurz vor der Machtergreifung der Taliban – versucht hätten, afghanische Flüchtlinge in ihr Heimatland abzuschieben: Auf "innenpolitischen Druck aus Österreich", wie der Falter kürzlich aus dem Aktenvermerk eines deutschen Diplomaten zitierte.

Das Schengen-Veto gegen Rumänien und Bulgarien stand damals noch nicht im Raum. In der zuständigen Arbeitsgruppe im EU-Rat wird die Causa ab September intensiv diskutiert. Österreich äußert keinerlei Bedenken oder Einwände. Eine Expertenkommission der Europäischen Kommission evaluiert im Oktober die Schengen-Reife Rumäniens und Bulgariens. Überprüft werden Datenaustausch und das Grenzmanagement. Die Expertenkommission gibt grünes Licht, lediglich die Niederlande wollten noch ein paar Fragen klären. Den Haag entsendet eine eigene Expertenkommission in beide Länder. Die Sachverständigen sind der Auffassung: Es werden alle Voraussetzungen erfüllt.

Eine Demonstration nach dem Nein zur Schengen-Erweiterung vor der österreichischen Botschaft in Bukarest, befeuert von der rechtsnationalen Partei AUR.
Foto: Heribert Corn/AP/APA/EPA

Plötzlicher Meinungsumschwung

In Bukarest findet im November ein Treffen des Salzburg-Forums statt. Das Forum ist ein Zusammenschluss auf Initiative des österreichischen Innenministeriums, dort treffen einander regelmäßig Minister aus Österreich, den Westbalkanstaaten sowie Slowenien, Rumänien und Bulgarien. Bei diesem Treffen einigen sich die Innenminister darauf, den Schengen-Beitritt Rumäniens zu unterstützen. Karner ist nicht anwesend. Zwei Tage später veröffentlicht der Kurier ein Interview mit dem Innenminister, in dem dieser ankündigt, gegen die Erweiterung stimmen zu wollen.

Was hat den plötzlichen Meinungsumschwung bewirkt? Einerseits war es wohl die ergebnisarme Auseinandersetzung rund um die Asylzelte in den Bundesländern und die Verteilung von Flüchtlingen in Österreich. Dazu kam eine gewisse Frustration auf EU-Ebene.

Immer nur vertröstet

Österreichische Politiker von Sebastian Kurz bis Karl Nehammer haben schon lange den Eindruck, beim Asylthema von der EU-Kommission und Partnerländern stets vertröstet zu werden. Auch die EU-Spezialisten im Außenamt sind für mehr Druckmachen in Brüssel. Ein Junktim mit Schengen empfehlen sie aber nicht. Man könne nicht ein System erweitern, das schon jetzt nicht funktioniere, heißt es hingegen im Kanzleramt in Wien.

In Bukarest spricht man dagegen von einem "Hammer auf den Kopf". Zwischen dem österreichischen und dem rumänischen Innenministerium wird hektisch verhandelt. Erst sagt Karner, man sei gegen jegliche Schengen-Erweiterung. Auch Kroatien spricht von einer "Bombe aus Wien" und schaltet die österreichische Wirtschaftskammer ein.

Der Grenzübergang Bregana zwischen Kroatien und Slowenien am 8. Dezember: Bald wird diese Grenze innerhalb der EU Geschichte sein.
Foto: AP

Nehammer und Söder in Zagreb

Das kroatische Lobbying wirkt. Nehammer reist gemeinsam mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder nach Zagreb. In einer Pressekonferenz mit Premier Andrej Plenković erklärt Nehammer, Österreich werde den Beitritt Kroatiens zum Schengen-Raum doch unterstützen. Die österreichische Argumentation: Kroatien schütze die Außengrenze ausreichend, Rumänien und Bulgarien nicht.

Nehammer reist auch auf die Insel Krk, wo sich ein Flüssiggasterminal befindet. Kroatien verspricht Bayern und Österreich eine Gaskooperation. Das Pikante daran: Die OMV hatte sich vor mehr als zehn Jahren aus dem Terminalprojekt zurückgezogen.

Die Rumänen werden ungeduldig und übergeben dem österreichischen Innenministerium detaillierte Daten, die alle Bedenken ausräumen sollen. Der rumänische Präsident Klaus Iohannis, Premierminister Nicolae Ciucă und Innenminister Bode rücken aus: Weniger als drei Prozent der irregulären Migranten, die in Österreich Asyl beantragen, würden Rumänien durchqueren. Das Innenministerium in Wien lenkt nicht ein.

Angebot abgelehnt

Rumänien und Bulgarien werden panisch und schlagen vor, alle Migranten und Flüchtlinge, die über Bulgarien und Rumänien nach Österreich kamen, auf der Grundlage des Dubliner Abkommens wieder zurückzunehmen. Österreich steigt auch darauf nicht ein.

Nun schaltet sich auch Kommissionschefin von der Leyen ein. Es müsse eine Lösung gefunden werden. Bukarest macht Wien ein neuerliches Angebot: Österreich dürfe Beamte an die rumänisch-bulgarische Grenze schicken, damit Wien sichergehen kann, dass diese gut geschützt werde. Abgelehnt. Am 2. Dezember erklärt der niederländische Premier Mark Rutte, dass sein Land den Beitritt Rumäniens zum Schengen-Raum unterstütze. Bulgarien sei jedoch noch nicht so weit. In Österreich gibt das Innenministerium Daten heraus, die zeigen sollen, dass viele Schlepper aus Rumänien kommen.

Die EVP greift ein

Am 3. Dezember treffen die Spitzen der Europäischen Volkspartei (EVP) einander in Athen. Sowohl Nehammer als auch der rumänische Staatspräsident Klaus Iohannis sind vor Ort. Die rumänischen Unterhändler schlagen vor, dass die Abstimmung über Bulgarien und Rumänien entkoppelt werden könnte.

Der Rechtsdienst des EU-Rats will einen entsprechenden Vorschlag erarbeiten. In Wien hat sich Karner längst entschieden: Österreich will in Brüssel hart bleiben – und einen Punkt setzen. Das EU-Asylsystem sei gescheitert, sagt Nehammer. Es müsse endlich etwas weitergehen. Der Kanzler sieht sich selbst als glühenden Europäer, aber er fühlt sich im Stich gelassen – vom Nachbarn Deutschland, von der Kommission.

Um Sicherheit beim Grenzschutz zu gewähren, bietet Bukarest Wien erneut an, Beamte an die rumänisch-bulgarische Grenze zu schicken.
Foto: Heribert Corn/AP/APA/EPA

Appelle aus Deutschland

Am 5. Dezember präsentiert die Kommission einen Plan zur Bekämpfung der irregulären Migration auf der Westbalkanroute. Auf dem EU-Westbalkan-Gipfel am nächsten Tag wird Österreich bekniet. Nehammer bleibt bei seinem Nein. Im Vorfeld des EU-Innenminister-Gipfels macht die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock eine Aussendung: "Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, dass Europa enger zusammenrückt. Ich appelliere insbesondere an Österreich, das Nein gegenüber Rumänien und Bulgarien noch einmal zu überdenken – insbesondere da die Bedenken bezüglich Grenzschutz in jüngsten Kompromissvorschlägen aufgegriffen wurden." Nehammer will die Entscheidung auf nächsten Herbst vertagen.

Beim EU-Rat der Innen- und Justizminister am 8. Dezember wird erst über den Beitritt Kroatiens abgestimmt, einstimmig angenommen, dann im Doppelpack über den Rumäniens und Bulgariens.

Einladung nach Rumänien

Die Niederlande machen in der Sitzung klar, dass sie nur gegen den Beitritt Bulgariens Einwände haben. Österreich ist gegen die Aufnahme beider Staaten, drängt auf Verschiebung. Bei der Abstimmung votieren beide Staaten mit Nein. Es wird noch versucht, einen Kompromiss zu finden, indem die Beitritte zwar beschlossen, aber erst später wirksam werden sollen. Vergeblich.

In einer Protestnote an das Wiener Außenamt heißt es: Die "ungerechtfertigte und feindselige Haltung Österreichs" werde unvermeidliche Folgen für die bilateralen Beziehungen haben. Der Umstand, dass sich Karner und Nehammer auf den Anstieg der Migrationszahlen beziehen, um das Veto zu rechtfertigen, sei "inakzeptabel, falsch und unfair". Unmut wird auch offen von anderen Politikerinnen und Politikern kundgetan. Baerbock twittert: "Ich hätte mir heute nicht nur eine andere Entscheidung gewünscht, sondern es ist eine schwere Enttäuschung."

Enttäuschung ist auf vielen Ebenen spürbar. Auch in Wirtschaftskreisen werden Sorgen geäußert. Willibald Czernko, Chef der Erste Group, verurteilt die Blockade. OMV-Chef Alfred Stern wird vom rumänischen Staatspräsidenten Iohannis in den Cotroceni-Palast, den Amtssitz des Staatschefs, geladen. Es geht um "Neptun", ein riesiges Gasfeld im Schwarzen Meer, das vor mehr als zehn Jahren unter Beteiligung der OMV gefunden wurde.

OMV-Chef Alfred Stern (siehe Foto) war beim rumänischen Staatspräsidenten geladen.
Foto: APA/AFP/JOE KLAMAR Fotograf: JOE KLAMAR

Die Rolle der OMV

Ioannis will wissen, warum sich die OMV nicht entschließen könne, in die Erschließung von "Neptun" zur Gasgewinnung zu investieren. Das wäre nicht nur im Interesse Rumäniens, sondern auch Österreichs. Stern macht deutlich: Die OMV werde sich mit der Entscheidung, vier Milliarden Euro in den Ausbau des Gasfelds zu investieren, bis Mitte kommenden Jahres Zeit lassen.

In Rumänien machen deshalb Gerüchte die Runde, dass es sich Österreich mit Russland nicht verscherzen wolle – immerhin verfügt die OMV über langjährige enge Kontakte zu Gazprom und Lukoil. Nicht nur die rumänischen Medien schreiben darüber, auch in politischen Kreisen kursiert die Erzählung. Die OMV weist das strikt zurück. Der Vorwurf, dass Österreich als Spaltpilz Europas Wladimir Putins Geschäft betreibe, bleibt dennoch haften.

Enttäuschung für Pflegekräfte

Enttäuschung macht sich auch bei jenen 26.000 Altenbetreuerinnen und Pflegekräften breit, die in Österreich arbeiten. Sie müssten jetzt noch länger an der Grenze auf die Einreise warten, beschwert sich eine Frau beim Wiener Bürgermeister Michael Ludwig und droht: "Wenn ihr mich hier nicht wollt, kann ich auch in Deutschland oder in der Schweiz arbeiten." Ludwig reagiert sofort. Er trifft sich demonstrativ "mit Vertreterinnen und Vertretern der Wiener Bevölkerung mit rumänischen Wurzeln" im Wiener Rathaus. Er werde sich weiter dafür einsetzen, "dass Bulgarien und Rumänien Teil des Schengen-Raums werden", schrieb Ludwig nun in einem offenen Brief. Man dürfe nicht "in einem gemeinsamen Europa andere Länder aus innenpolitischem Kalkül vor den Kopf stoßen".

Das kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die SPÖ in dieser Frage eine schizophrene Position einnimmt. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner hatte prompt erklärt, auch sie sei gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Ebenso prompt brachte ihr das Kritik ein, etwa vom roten EU-Abgeordneten Andreas Schieder und Ex-Kanzler Christian Kern, ein. Auch Ludwig, ansonsten stets an ihrer Seite, äußerte sich vorsichtig kritisch. Sie wolle wohl Hans Peter Doskozil keinen Grund zur Klage geben, wird innerparteilich gespöttelt. Der rote Landeshauptmann im Burgenland kritisiert laufend, ihr Kurs in Asyl- und Migrationsfragen sei zu lasch.

Laut schweigen die Grünen

Am lautesten schweigen derzeit die Grünen. Vizekanzler Werner Kogler hat zwar im Vorfeld mehrfach erklärt, dass er gegen das Schengen-Veto des Innenministers sei, nach dem Njet wurde es aber ruhig um ihn. Justizministerin Alma Zadić ließ ausrichten, dass sie den Schritt ihres Koalitionspartners bedauere. Mehr könne man nicht tun, heißt es bei den Grünen. Alle Ministerinnen und Minister sind auf EU-Ebene in ihrem Abstimmungsverhalten frei. Innenpolitisch kommen die Grünen mit ihrer Ohnmachtsgeste nicht weit, dafür sorgt die SPÖ. "Wo sind die Grünen?", fragt etwa Wiens Bürgermeister Michael Ludwig leicht süffisant.

Die Haltung Österreichs ist in Zusammenhang mit der Debatte um Zelte für Flüchtlinge zu sehen – und dem Wunsch der ÖVP, in Asyl- und Migrationsfragen einen Punkt zu setzen.
Foto: Heribert Corn/AP/APA/EPA

Wie es weitergeht? Die ÖVP wird nicht damit aufhören, mit europapolitischen Themen auch innenpolitisches Kleingeld zu wechseln. Sebastian Kurz hat das Feld dafür aufbereitet – und war damit erfolgreich. Sein ehemals engster Vertrauter Gerald Fleischmann wird dafür sorgen, dass die Ausländerthematik weiter beackert wird. Ob die ÖVP dafür die Ernte einfährt – oder doch die FPÖ –, wird sich bei der Landtagswahl in Niederösterreich zeigen.

Auf EU-Ebene ist der Zorn über Österreichs Nein wieder abgeklungen – außer in Rumänien. Viel steht derzeit auf der EU-Agenda: Gaspreisbremse, Wirtschaftskrise, Ukraine-Hilfe, weitere Sanktionen gegen Russland und den Iran.

Ärger über Tschechien

Unter Diplomaten kursiert nicht nur die Version, dass Österreich allein sich im Innenministerrat stümperhaft verhalten habe. In französischen Kreisen rümpft man über den tschechischen Innenminister Vít Rakušan die Nase. Dieser habe wohl geglaubt, er könne die Abstimmung mit Druck über die Bühne bringen, um einen schnellen Erfolg für seinen EU-Vorsitz einzufahren: "Er hat die Lage in Österreich falsch eingeschätzt." Frankreich unterstützt Rumänien beim Schengen-Beitritt, hat aber auch Verständnis für Österreichs Sorgen. Paris liegt seinerseits im Clinch mit Rom, was die Verteilung von Asylwerbern betrifft. Präsident Emmanuel Macron wünscht sich eine Totalreform des Schengen-Systems sowie einen starken Schutz der EU-Außengrenzen. Auch sein Vorstoß ist bisher gescheitert.

Beim EU-Gipfel am Donnerstag legte Kanzler Nehammer nach. Man müsse mit dem "Tabu der Zäune" brechen, Bulgarien brauche für den Außengrenzschutz zwei Milliarden Euro aus dem EU-Budget. Die Debatte zur Migrationsfrage war kurz, aber die 27 Staats- und Regierungschefs wollen dem Thema wieder Priorität geben. Anfang Februar gibt es in Schweden einen EU-Sondergipfel. Fortsetzung folgt. (Thomas Mayer, Katharina Mittelstaedt, Petra Stuiber, Günther Strobl, Adelheid Wölfl, 17.12.2022)