Im Gastkommentar widmet sich die Politikwissenschafterin Ariadna Ripoll Servent der Frage, was die EU tun muss, um den Fall Kaili aufzuarbeiten.

Eva Kaili, die mittlerweile verhaftete ehemalige Vizepräsidentin des Europaparlaments, steht im Zentrum eines Korruptionsskandals.
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Das Europäische Parlament ist derzeit in aller Munde, aber nicht aus den Gründen, die es sich wünscht. Es ist von einem Korruptionsskandal rund um die ehemalige Vizepräsidentin des Europaparlaments, Eva Kaili, erschüttert worden, der auf die Seiten eines Kriminalromans gehört. Müssen wir uns Sorgen machen? Und was kann getan werden, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen?

Müssen wir besorgt sein? Nun, dies ist ein Extremfall. Ja, die EU-Institutionen ziehen viele Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter an, die oft dringend benötigtes Fachwissen anbieten. Ja, Geld kann wichtig sein, um Einfluss zu nehmen, aber es ist nicht der einzige Faktor. Langfristige Kontakte, maßgeschneiderte Informationen und eine sichtbare Unterstützung durch Schlüsselbereiche der Gesellschaft können ebenso wichtig sein.

"Korruption ist ein Straftatbestand und muss daher nach dem Gesetz verfolgt werden."

Hinzu kommt, dass EU-Entscheidungen aus vielen Kompromissen bestehen: zwischen verschiedenen Ländern, verschiedenen politischen Parteien, verschiedenen sektoralen Interessen, verschiedenen Institutionen. Daher ist es für ein einzelnes Mitglied des Europäischen Parlaments fast unmöglich, das Ergebnis einer Abstimmung oder einer Einigung wesentlich zu verändern. Außerdem: Wir sollten Lobbyismus nicht mit Korruption gleichsetzen.

In der Europäischen Union gibt es verschiedene Möglichkeiten, den Zugang zu Gesetzgebung und Beamtenschaft zu regeln, vor allem ein gemeinsames obligatorisches Transparenzregister und spezifische Verhaltenskodizes für jedes Organ. Daher ist nicht jeder, der Kontakt zu Interessenvertretungen hat, zwangsläufig korrupt. Korruption ist ein Straftatbestand und muss daher nach dem Gesetz verfolgt werden. Lobbying ist in den EU-Institutionen zwar eine übliche Praxis, aber auch besser geregelt als in vielen nationalen Systemen – die Österreicherinnen und Österreicher wissen das nur zu gut.

Was tun?

Dennoch wirft dieser Skandal einen großen Schatten nicht nur auf das Europäische Parlament, sondern auch auf die anderen EU-Institutionen. Er könnte das Vertrauen in die Union beeinträchtigen und zu einer noch geringeren Beteiligung an den Europawahlen führen. Was können das Europäische Parlament und die EU tun? Die naheliegendste Antwort ist, sich an den Ermittlungen zu beteiligen und dazu beizutragen, dass diese – und alle anderen damit zusammenhängenden – Vorgänge aufgeklärt werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, was, wie und warum passiert ist. Die längerfristige Antwort ist ein klares Bekenntnis zu Transparenz und Rechenschaftspflicht. EP-Präsidentin Roberta Metsola kündigte einige wichtige Maßnahmen an und verwies insbesondere auf die Notwendigkeit, den geltenden Verhaltenskodex wirksamer durchzusetzen und Whistleblower zu schützen. Außerdem möchte sie alle inoffiziellen Freundschaftsgruppen mit Drittländern verbieten und neue Regeln einführen, um deren Zugang zu beschränken.

Einige ihrer Vorschläge zielen auf die derzeitigen Praktiken ab, die Missbrauch Tür und Tor öffnen. So können die Mitglieder des Europäischen Parlaments zwar Nebentätigkeiten ausüben, sind aber kaum für die dort ausgeübten Tätigkeiten und mögliche Unvereinbarkeiten verantwortlich.

Große Hürde

Es existiert auch eine Tradition der sogenannten "revolving doors": Nach ihrem Ausscheiden aus dem Europäischen Parlament arbeiten viele ehemalige Abgeordnete für Interessengruppen und nutzen ihre Kontakte und ihren Zugang zum Europäischen Parlament, um Einfluss zu nehmen. Daher hat Metsola ein gutes Verständnis für das Problem und mögliche Lösungen gezeigt. In ähnlicher Weise hat die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, einen langjährigen Vorschlag für ein neues unabhängiges Ethikgremium, das alle EU-Institutionen abdeckt, wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Wer die Debatten über Transparenz und Rechenschaftspflicht in der EU verfolgt, weiß jedoch, dass diese Vorschläge vor einer großen Hürde stehen: dem politischen Willen. Viele Jahre lang haben die beiden größten Fraktionen des Europäischen Parlaments (die Europäische Volkspartei und die Fraktion der Sozialdemokraten) Reformen blockiert, die darauf abzielen, den Entscheidungsprozess transparenter zu gestalten. So wurde beispielsweise die Idee eines "legislativen Fußabdrucks", der die Mitglieder des Europäischen Parlaments verpflichtet, Treffen mit Interessengruppen zu veröffentlichen, 2016 auf freiwilliger Basis eingeführt und erst 2019 für diejenigen Mitglieder verpflichtend, die direkt an der Gesetzgebung beteiligt sind.

Strenge Sanktionen

Die Europäische Kommission und insbesondere der Rat der EU haben sich noch stärker zurückgehalten, wenn es darum ging, die Interessenvertretung zu regeln und gemeinsame Lösungen zu finden. Noch wichtiger ist, dass es auch an politischem Willen fehlt, wenn es um die Rechenschaftspflicht geht: Transparenz ist bedeutungslos, wenn sie nicht durch strenge Durchsetzungsmaßnahmen und Sanktionen gestützt wird. Die Rechenschaftspflicht sollte auch eine gemeinsame Aufgabe sein. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments und des Rates werden letztlich von den nationalen politischen Parteien aufgestellt beziehungsweise von den Regierungen an die EU-Institutionen entsandt. Transparenz und Rechenschaftspflicht sind nicht nur auf die Europäische Union beschränkt, sondern sollten alle unsere politischen Systeme durchdringen.

Jetzt muss man den politischen Willen zu Transparenz und Rechenschaftspflicht zeigen. Nur so wird es gelingen, das Vertrauen zurückzugewinnen. Dies ist auch das größte Risiko: Wenn die Europäische Union – wie bisher – diese Fragen nicht ernst nimmt, wird sie nur zu einer weiteren Erosion des Vertrauens beitragen und viele enttäuscht zurücklassen, die sich nicht nur von der EU, sondern auch von den nationalen Demokratien vergessen fühlen. (Ariadna Ripoll Servent, 21.12.2022)