Ein Arbeiter in einem CO2-armen Stahlwerk von ThyssenKrupp. Mit der Einigung auf das Ende der freien Zertifikate gewinnen klimaverträglichere Produktionsarten weiter an Bedeutung.

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Er gilt als zentraler Baustein der europäischen Klimapolitik: der Emissionshandel, kurz ETS. Sowohl die Energiewirtschaft als auch energieintensive Industrien – Stahl, Zement und Papier zum Beispiel – müssen bereits seit 2005 Zertifikate für ihre Emissionen kaufen. Die Idee ist einfach: Der Ausstoß von Treibhausgasen soll so teuer sein, dass Unternehmen alles daransetzen, die Erde so wenig wie möglich weiter zu erhitzen.

Das System hat allerdings Lücken: Zum Beispiel bekommen Industrieanlagen Gratiszertifikate für ihre Emissionen zur Verfügung gestellt, um zu verhindern, dass sie in Drittstaaten abwandern, in denen sie sich die CO2-Bepreisung sparen. Bei Punkten wie diesem soll jetzt nachgeschärft und das System ausgeweitet werden. Außerdem wird ein zweiter Emissionshandel eingerichtet, der die nötigen Veränderungen in den Sektoren Verkehr und Gebäude anschieben soll.

Was bisher geschah

Im Sommer vor zwei Jahren verabschiedete die EU-Kommission ihr großes "Fit for 55"-Klimapaket. Es enthält über zwölf Gesetze, die es schaffen sollen, die Emissionen der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu drosseln. Dazu zählen etwa ein De-facto-Verkaufsstopp neuer Autos mit Verbrennungsmotoren, Reformen für den Ausbau erneuerbarer Energien sowie für die Steigerung der Energieeffizienz – und eben der Emissionshandel.

Derzeit liegt der Preis bei über 85 Euro die Tonne, das entspricht einem Zertifikat. Zahlen müssen bislang fast ausschließlich Energieunternehmen. Im Gegensatz zur Industrie bekamen sie auch im bisherigen System keine Gratiszuteilungen, weil sie kaum im internationalen Wettbewerb stehen.

Die Art und Weise, wie freie Zuteilungen in der Industrie verteilt wurden, erntete häufig Kritik. So auch vom Europäischen Rechnungshof. Dieser schreibt in einem Bericht, die Vergabe von Gratiszertifikaten sei zwar grundsätzlich gerechtfertigt, doch müsse ihre Vergabe zielgerichteter gestaltet werden, um die Dekarbonisierung anzuschieben.

Die Diskussion zu einer diesbezüglichen Reform fiel nicht leicht. So warnten Betriebe davor, angesichts der steigenden Kosten nicht mehr mit den Preisen von Unternehmen aus Drittstaaten mithalten zu können. Andere forderten ein schnelles Auslaufen, damit das System endlich wirken könne – und die Emissionen sinken.

Daher arbeitete die EU an einem Klimazoll: Tritt er in Kraft, müssen ausländische Unternehmen für das CO2, das bei der Herstellung eines Produkts entstand, an der Grenze der EU zahlen. Eine Einigung auf ein Grundgerüst für diesen Grenzausgleich, abgekürzt CBAM, landeten die Mitgliedsstaaten und das Parlament vergangene Woche.

Wenige Tage später gelang nun der nächste – wohl noch bedeutendere – Durchbruch: Die Verhandlerinnen und Verhandler des EU-Parlaments einigten sich auf einen Kompromiss zur Reform des Emissionshandels. Er muss nun nur noch offiziell von Rat und Parlament ratifiziert werden.

Was der Kompromiss für das alte System bedeutet

Vor allem die Industrie muss sich auf Neuerungen einstellen. Sie bekommt ab 2034 keine freien Zertifikate mehr. Für Anlagen, die mehr Emissionen ausstoßen, als ihr Reduktionspfad vorsieht, müssen Unternehmen Zertifikate kaufen.

Die Industriellenvereinigung (IV) warnt vor der "überragenden Bedeutung" des Schrittes: Österreich werde mit seiner ausgeprägten Exportorientierung stark getroffen. Denn während mit dem Grenzausgleich ein Instrument geschaffen wurde, europäische Industrien im Binnenmarkt vor billigerer Konkurrenz zu schützen, fanden die Mitgliedsstaaten und das Parlament bislang keine Einigung für die Exportwirtschaft.

Aus Sicht der IV brauche es komplementäre Instrumentarien für die Exportwirtschaft wie eine fortlaufende Freizuteilung für die Exportproduktion oder andere Instrumentarien. Andernfalls drohe für die österreichische Industrie ein Produktionsrückgang von zehn Prozent, so die IV.

Klaus Röhrig vom Climate Action Network (CAN) Europe sieht die Industrie hingegen als Gewinnerin: Der Stopp der freien Zertifikate kommt später, als ihn EU-Parlament sowie Umweltorganisationen gefordert hatten.

Derzeit stünden der Industrie noch immer weit mehr als vier Milliarden freie Zertifikate zur Verfügung, so Röhrig. Bei einem CO2-Preis von 85 Euro pro Tonne bedeute das eine Unterstützung im Wert von über 400 Milliarden Euro für Industriesektoren, die bislang kaum strukturelle Emissionsreduktionen vorweisen konnten, kritisiert er. "Das ist eine riesige Unterstützung für die Industrie, die da geleistet wird. Andere Sektoren müssen währenddessen bereits blechen."

In einem anderen Punkt setzte sich das Parlament durch: Zum ersten Mal sind die freien Zertifikate an Konditionen geknüpft. So müssen alle Industrieunternehmen Empfehlungen für die Energieeffizienz ihrer Anlagen einholen. Wer diese Empfehlungen nicht umsetzt, erhält weniger freie Zertifikate – muss also mehr zahlen. Außerdem müssen die 20 Prozent der schmutzigsten Anlagen zusätzliche Klimaneutralitätspläne vorlegen.

So soll der Emissionshandel erweitert werden

Das System hat Lücken – gilt aber insgesamt als erfolgreiches Gerüst, sagen sowohl die Politik, viele Unternehmen als auch Umweltorganisationen. Deshalb soll es nun ausgeweitet werden: In einem zweiten Emissionshandel, oft als ETS2 abgekürzt, wird ein Zertifikatshandel für Verkehr und Gebäude aufgesetzt. Anders als im ursprünglichen Emissionshandel müssen die Zertifikate hier nicht für jene Emissionen gekauft werden, die bei der Produktion, sondern die beim Verbrennen fossiler Brennstoffe entstehen.

Zahlen müssen jene Unternehmen, die Kraftstoffe in den Umlauf bringen – doch es wird erwartet, dass sie die zumindest einen Teil der Kosten an Kundinnen und Kunden weitergeben. Damit, so die Rechnung, werden weniger Kraftstoffe verbrannt.

"Bisherige Maßnahmen haben nicht gereicht, um die Emissionen im Verkehr zu senken. Deshalb halten wir das für einen sehr sinnvollen Schritt", sagt Ulla Rasmussen vom Verein Verkehrsclub Österreich (VCÖ). So legten die Emissionen 2021 nach dem Ende des Pandemie-Lockdowns um 4,3 Prozent zu. Seit 1990 werden um 57 Prozent mehr Treibhausgase ausgestoßen.

Das neue System soll diesen Trend umkehren. Rasmussen blickt zuversichtlich auf die Einigung. "Besonders gut an dem System ist, dass der Emissionshandel die CO2-Flotten-Standards für Autos und Lkws ergänzt", sagt sie. Dadurch werde die Verantwortung verteilt und ein größerer Effekt erzeugt.

Lange hatten sich Staaten wie Frankreich in Erinnerung an die Gelbwestenproteste gegen die Erweiterung des Emissionshandels ausgesprochen. Zu hohe soziale Kosten seien zu erwarten, so die Befürchtung. Eine Antwort darauf soll nun der sogenannte Klimasozialfonds liefern, der mit 65 Milliarden Euro ausgestattet werden soll. Sie sollen einkommensschwache Haushalte europaweit unterstützen.

Dieser Mechanismus sei wichtig, so Röhrig – aber nicht genug. "Vergleicht man diesen heruntergehandelten Betrag mit den 340 Milliarden Euro, die die freien Zertifikate wert sind, wird eine Schieflage deutlich", meint Röhrig von CAN Europe.

Und der EU-Parlamentarier Michael Bloss, der den Kompromiss für die Grünen-Fraktion verhandelt hat, sagt: "Bürgerinnen und Bürger in der EU müssen mit höheren CO2-Preisen rechnen. Der dafür geschaffene Klimasozialfonds reicht nicht aus, um diese Belastung auszugleichen." Es brauche in Zukunft stärkere soziale Maßnahmen, fordert er.

Was der neue Emissionshandel bewirken kann

Die wichtigste Frage bei all dem: Wird die Einigung die Erderhitzung und die sozialen Folgen der nötigen Veränderungen abfedern können?

"Wir konnten vieles abwehren, aber für das Pariser Klimaabkommen reicht das nicht aus", sagt Bloss über die Verhandlungen. Die EU schicke die Industrie mit der Einigung auf Modernisierungskurs. "Gleichzeitig ist klar, dass es jetzt beim Klimaschutz weitergehen muss", sagt er.

Dazu kommt, das der Lenkungseffekt des CO2-Preises derzeit überschaubar ist, wie Christian Zwittnig vom Interessenverband Österreichs Energie erklärt. Nicht der Emissionshandel, sondern vor allem die hohen Gaspreise haben in diesem Jahr zu Einsparungen geführt. "Das könnte sich allerdings wieder ändern, wenn die Preise sinken", so Zwittnig.

Neben dem preislichen Effekt wirkt das neue System allerdings noch auf andere Weise: So gibt die EU vor, dass alle Einnahmen, die die Zertifikate bringen, für den Klimaschutz und soziale Maßnahmen ausgegeben werden müssen. "Das ist vielleicht die größte Verbesserung am System. So wird sichergestellt, dass insgesamt ein Umbau geschafft wird", so Röhrig von CAN Europe.

Trotz Durchbruchs in der EU müsse Österreich dringend seine Hausaufgaben machen, mahnt Rasmussen mit Verweis auf das seit nun schon zwei Jahren fehlende Klimaschutzgesetz. Dieses soll unter anderem jährliche Ziele für die Sektoren vorgeben und könnte bei einer Pfadüberschreitung emissionssparende Schritte wie ein Tempolimit auslösen. "Es gibt viele Möglichkeiten, die heute noch nicht ausgeschöpft sind", so Rasmussen. (Alicia Prager, 22.12.2022)