Für viele gehört zu Weihnachten ein Glas Rotwein dazu. Welche Rolle gemäßigter Alkoholkonsum in unserer Kultur spielt, untersucht der Brite Tim Crane.
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Alkohol genießt aus medizinischer Perspektive keinen guten Ruf, vor allem wenn er im Übermaß genossen wird. Zu Recht, wie unzählige Studien zeigen: Häufiger und übermäßiger Alkoholkonsum steht mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, schnellerem Altern und Veränderungen der Gehirnstruktur in Verbindung – von negativen Folgen für Psyche und Sozialleben einmal ganz abgesehen.

So dramatische Folgen hat ein gelegentliches Glas nicht. Die Evidenz für eine positive gesundheitliche Wirkung von Rotweinkonsum in Maßen ist allerdings auch deutlich dünner, als sich so manche Gourmands und Weinliebhaberinnen wünschen würden. Das ändert aber nichts an der kulturhistorischen Bedeutung des vergorenen Traubensaftes, der nicht nur Dichter und Denkerinnen seit Jahrtausenden als Genussmittel verführt, sagt der Philosoph Tim Crane.

STANDARD: In vino veritas, im Wein liegt die Wahrheit. Dieses Zitat wurde zum geflügelten Wort. Reicht dazu mäßiger Weinkonsum, oder muss man betrunken sein, um die Wahrheit zu sagen?

Crane: Ein Glas Wein in guter Gesellschaft macht natürlich entspannter. Wir Engländer haben ja immer die Sorge, dass eine Unterhaltung peinlich und verkrampft wird. Man sagt zum Wein dann "Eisbrecher". Vielleicht macht es also unsere Zungen oder jene der Finnen, die auch eher zurückhaltend sind, lockerer. Die Gefahr ist aber, das richtige Maß zu überschreiten, vor allem dann, wenn ein Entspannungseffekt eintritt, nach dem wir ja trachten. Seit die Menschen Wein getrunken haben, haben sie auch zu viel davon gehabt, das hatte zum Teil schwindelerregende Ausmaße.

STANDARD: Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Crane: Die Geschichte des Weins ist auch eine Geschichte der Weinexzesse. Noah soll nicht nur der erste Winzer gewesen sein, sondern auch der Erste, der zu viel trank. Die Bacchanalien in der Antike sind bekannt für Ausschweifungen aller Art. Es gibt zahlreiche Schriftsteller, die über ihren massiven Weinkonsum schreiben – Evelyn Waugh zum Beispiel.

Tim Crane ist Philosoph und Vizerektor für Lehre an der Central European University.
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STANDARD: Gibt es Kulturen, in denen besonders viel getrunken wird?

Crane: Das darf man natürlich nicht generalisieren. Dennoch trinken Menschen eher zu viel, wenn sie in nördlichen Ländern leben. Es hängt wohl stark mit Sonnenlicht und Temperaturen zusammen. In Italien ist das Problem nicht so präsent wie in Finnland. Es gibt aber auch kulturelle Unterschiede – im Grunde ist Alkohol im Allgemeinen und Wein im Besonderen europaweit bei jedem Anlass gesellschaftlich präsent.

STANDARD: Es gibt Trinker, die behaupten, durch den Wein ein besserer Mensch geworden zu sein. Das klingt doch nach einer guten Ausrede für den nächsten Rausch.

Crane: Immanuel Kant hat sinngemäß gemeint, beim Weintrinken vergessen und übersehen wir die Schwächen der anderen. Menschen, die sonst hartherzig sind, werden durch den Rausch gut gelaunt, kommunikativ und gütig. Aber natürlich werden Menschen durch Weintrinken keine besseren Menschen, gütig, menschlich, freundlich sind Sie – oder Sie sind es nicht.

STANDARD: Wein hat jedenfalls Einfluss auf die Gesellschaft. Aber er beeinflusst doch auch unser Denken, oder?

Crane: Es gibt auch ein schönes Zitat von Seneca: Er hat sinngemäß gemeint, Wein befreit die Seele von der Knechtschaft der Sorgen, entlässt sie aus der Sklaverei, belebt sie und macht sie mutiger für alle Unternehmungen und Pläne. Immanuel Kant hat regelmäßig Wein getrunken, er hatte ein recht langweiliges Leben und hat Königsberg nie verlassen. Das heißt aber natürlich nicht, dass man mit dem regelmäßigen Genuss von Wein ein großer Denker und Philosoph wird. Es gibt auch heute viele Menschen, die glauben, dass Alkohol aus ihnen kreativere Menschen macht. Viele Künstler oder Schriftsteller hoffen, durch Weingenuss einen zündenden Einfall für ihr Schaffen zu haben. Wer Wein in Maßen trinkt, der hat vielleicht eine spezielle Sicht auf die Welt. Das liegt aber wohl nicht am Trinken allein, eher an der Art, wie er trinkt, an einer gewissen Besonnenheit.

"Wer Wein in Maßen trinkt, hat eine spezielle Sicht auf die Welt. Das liegt aber nicht am Trinken allein." (Tim Crane)

STANDARD: Geht durch dieses Alleine-Trinken, das aufputschende Trinken, das Sie angesprochen haben, die Weinkultur verloren?

Crane: Es stimmt, dass zum Weingenuss weit mehr gehört als ein volles Glas, das man austrinkt. Das Ambiente, das Einschenken des Glases, das Essen, zu dem man einen ganz bestimmten Wein auswählt – und auch die Gesellschaft, Freunde, Familie, Geschäftspartner, mit denen man diesen Genuss teilt. Ich halte genau dieses Teilen für essenziell. Und letztlich gibt es auch so viele verschiedene Arten, Wein herzustellen. Wer sich dessen in der Gesellschaft bewusst wird, wer Stil liebt, der hat natürlich mehr Freude am Wein.

STANDARD: Es gibt auf der anderen Seite wiederum Weinkenner, die ein Glas weißen oder roten Weines als Kunst bezeichnen. Würden Sie dem zustimmen?

Crane: Wein ist keine Kunst, es ist ein im besten Fall geschmacklich hervorragend hergestelltes Produkt, in dem eine gewisse Ästhetik liegt – wie in einer Landschaft. Dinge können ästhetisch gewürdigt werden – zum Beispiel im Sinne der traditionellen Kategorie des Schönen –, ohne dass sie Kunstwerke sind. Eine Landschaft kann als schön empfunden werden, ebenso wie ein Mensch oder ein Auto. Aber ich kann mir kein Museum mit Wein vorstellen.

STANDARD: Noch eine persönliche Frage: Welchen Wein bevorzugen Sie?

Crane: Unterschiedlich. Früher waren es stärkere Rotweine aus Frankreich und leichtere Weißweine. Heute mag ich eher leichtere Rotweine. Und seit die Universität in Wien ist, mag ich den Gemischten Satz besonders gern, den gibt es ja sonst nirgends. (Peter Illetschko, 25.12.2022)