Es wäre die ultimative Blamage für Wladimir Putin, womöglich gar der Anfang seines Endes als russischer Präsident: die Rückeroberung der von Russland 2014 illegal annektierten Krim durch die Ukraine. Und nicht nur die dazugehörige Spotify-Playlist namens Crimea Beach Party 2023 existiert längst.

Hört man ukrainischen Offiziellen, vor allem Präsident Wolodymyr Selenskyj, zu, wird klar: Für die Ukraine wird dieser Krieg erst dann beendet sein, wenn die territoriale Integrität des Staates wiederhergestellt ist, die international anerkannten Grenzen von vor 2014 tatsächlich wieder respektiert werden. Übersetzt hieße das: Der gesamte Donbass und die Krim sind wieder unter ukrainischer Kontrolle, kein russischer Soldat hat seine Stiefel mehr auf blau-gelbem Boden.

In den Wochen des Befreiungskampfes um Cherson mussten etliche Zivilisten aus der Stadt fliehen und wurden etwa nach Dschankoj auf der besetzten Krim gebracht. Russland sprach von Evakuierungen, Menschenrechtsorganisationen und Kiew immer wieder von Verschleppungen.
Foto: REUTERS/ ALEXEY PAVLISHAK

Völkerrechtlich muss sich dafür nichts ändern. De jure blieb die Krim, wie auch die vier heuer aus Moskauer Sicht einverleibten Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja ohnehin Teil der Ukraine. On the ground aber hat Machthaber Putin nun einmal andere Fakten geschaffen. Und tatsächlich ist die Krim die einzige annektierte Region, in der zumindest russisches Recht und russische Kontrolle übereinstimmen.

Das Absurde aus russischer Sicht: Vor der großangelegten Invasion im Februar 2022 hatten nur die überzeugtesten, vielleicht auch nur die größenwahnsinnigsten ukrainischen Patrioten eine militärische Rückeroberung der Krim als ernsthafte Option in Betracht gezogen. Dank der erfolgreichen Gegenoffensive und der augenscheinlichen Mängel in der russischen Kriegsführung, vielleicht auch seit dem symbolisch so wirksamen Treffer auf der Kertsch-Brücke, wagten es zuletzt aber immer mehr Politikerinnen und Diplomaten, die Rückeroberung der Krim als Teil eines erfolgreichen Kriegsendes mitzudenken. Waren westliche Militärs lange skeptisch, so erachten einige das Ziel mittlerweile als realistisch.

Vier-Stufen-Plan

Für Ben Hodges, den Ex-Oberbefehlshaber der US-Landstreitkräfte für Europa, sind die militärische Niederlage Russlands und die Rückeroberung der Krim gar die einzig logische Option für 2023. Einzig für den von Russland ehemals angemieteten Warmwasserhafen und Flottenstützpunkt in Sewastopol werde man eine Auslauffrist finden müssen, so Hodges. Hodges ist einer von fünf Militärexperten, die die BBC kürzlich um ihre Einschätzung des Kriegsverlaufes 2023 bat. Den klaren Sieg Russlands erwartet kein seriöser Experte mehr. Dennoch gehen die Meinungen auch in Militärkreisen immer noch weit auseinander: von der raschen Niederlage Russlands bis zu einer jahrelangen Prolongation des Krieges.

Erst kürzlich aber berichteten US-Medien, dass ein Mitglied der Biden-Administration den US-Kongress darüber informiert haben soll, dass die Ukraine schon jetzt über die militärischen Fähigkeiten zur vollständigen Rückeroberung der Krim verfüge. Könnte es also doch klappen?

Putin besucht die im Oktober schwer beschädigte Krim-Brücke.
DER STANDARD

Der panische Rückzug Russlands aus Cherson, die Lieferung der Patriot-Abwehrraketen und die seit Monaten ausbleibenden strategischen Erfolge der russischen Armee gaben Kiews Kommandanten Aufwind. Auch deshalb glaubt Mick Ryan – ein australischer Ex-Generalmajor mit Kampferfahrung in Afghanistan und im Irak, der auch die United States Joint Chiefs of Staff als Stratege beriet –, eine mögliche Formel, ein Grundgerüst gefunden zu haben, um eine Rückeroberung überhaupt in den Bereich des Möglichen zu rücken.

  • Rhetorik: Zunächst einmal müsste die Rhetorik der westlichen Partner einheitlicher werden. Auch wenn Zweifel an der Herkulesaufgabe berechtigt seien, so müssten solche Worte um die absolute Bereitschaft, der Ukraine bei ihren Bemühungen beizustehen, ergänzt werden.

  • Rüstungsexporte: Die Produktion und der Export westlicher Rüstungsgüter müssten hochgefahren werden, um die Ukraine – in den vergleichsweise ruhigeren Wintermonaten – besser auszustatten. Es brauche Panzer, panzerbrechende Geschoße, Hubschrauber, Kampfjets. Walerij Saluschnyj, Oberkommandant der ukrainischen Streitkräfte, habe die Liste an Gerät, das er zur Rückeroberung der Krim brauche, bereits zusammengestellt. Es gehe nur mehr um politischen Willen.

  • Rückeroberungen: Ohne eine vollständige Rückeroberung der südlichen Provinzen Cherson und Saporischschja werde es nicht möglich sein, die Krim über die schmale Landbrücke anzugreifen. Auch weil die Versorgung ukrainischer Truppen nur von dort und nicht aus den Meeren kommen kann.

  • Strategische Geduld und Beistand: Nachdem Putin eingesehen habe, dass es mit der schnellen Eroberung Kiews nichts werde, habe er seine Strategie umgestellt. Russland sei ein großes Land mit viel Geduld, soll der Machthaber im Kreml dem israelischen Premier gesagt haben. Habe Putin zunächst die Hoffnung gehabt, Nato- und EU-Partner würden nicht schnell und entschlossen genug handeln, so setze er nun darauf, dass der Beistand brüchig werde. Das gelte es zu verhindern, sagt Ryan.

Was dafür, was dagegen spricht

In der Theorie sind Kriege jedoch leichter zu planen, als sie in der Praxis zu führen sind. Eine Harmonisierung der Rhetorik ist bei 27 EU-Partnern und 30 Nato-Mitgliedern alles andere als einfach. Das Wording in Abschlussdokumenten der G7, der EU oder der Nato ist aber seit Monaten recht konstant und klar, weil es nun einmal im Interesse aller Staaten ist, dass die territoriale Integrität eines jeden Staates auch dann gewährt bleibt, wenn er einmal angegriffen wird.

Schwieriger ist bekanntlich das Thema der Waffenlieferungen, wenngleich auch hier mit der Bereitstellung der hochmodernen Patriots durch die USA ein kleiner Damm gebrochen sein könnte. In Finnland machen sich erste Stimmen für die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern stark, Ähnliches hört man aus der Slowakei über MiG-Kampfflieger. Bisher brachte noch jeder Kriegsmonat neue Waffensysteme. Nicht zuletzt wissen die Ukraine und ihre Partner: Je länger der Krieg dauert, desto kostspieliger wird er.

Der Anschlag auf die symbolträchtige Kertsch-Brücke, die milliardenteure Verbindung Russlands zur Krim, wurde zum Symbol des Widerstands.
Foto: APA/AFP/SERGEI SUPINSKY

Die politische Unterstützung für die Rückeroberung Saporischschjas und Chersons im Süden ist zweifelsfrei gegeben. Probleme könnten die massiven Gräben und Verteidigungswälle sein, die Russland derzeit aushebt, um sich regelrecht zu verschanzen. Das Ausmaß der gelieferten Waffen wird den Unterschied machen – oder eben nicht. Es möge "paradox klingen, aber militärische Unterstützung für die Ukraine ist der schnellste Weg zum Frieden", sagte am Freitag Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. An Motivation jedenfalls fehlt es der Ukraine nicht. Dafür hauptverantwortlich ist Präsident Selenskyj, der es mit symbolischen Aktionen, Frontbesuchen und Reden auf internationaler Bühne bislang schafft, die Unterstützung zu wahren und das Interesse des Westens aufrechtzuerhalten.

Dafür spricht auch, dass die USA und alle, die Russland als Gegenspieler betrachten, noch nie so günstig und ohne einen eigenen toten Soldaten einem strategischen Rivalen so viel Schaden zufügen könnten. Für Real- und Machtpolitiker in den Außen- und Verteidigungsministerien wäre das eigentlich der logische Schachzug.

Dennoch zweifeln einige Militärexperten an der Sinnhaftigkeit einer solch kräfte- und materialintensiven Offensive. In einem SZ-Interview sagte der Sicherheitsexperte Carlo Masala kürzlich, er halte es für "nahezu ausgeschlossen" und rechne eher mit Versuchen, die russische Front im Osten zu brechen. Auch sollen Kiewer Offiziere hinter verschlossenen Türen deutlich defensiver klingen, berichten lokale Journalisten.

Die Krim ist Putins Prestigeprojekt. Er wird alles daran setzen sie zu verteidigen.
Foto: MIKHAIL METZEL / KREMLIN POOL / SPUTNIK / POOL

Nukleare Option als Abschreckung?

Sollte die Ukraine die Krim-Offensive dennoch wagen, wird Putin die nukleare Karte abermals präsentieren. Gespielt hat er sie bisher trotz aller Rückschläge nicht. Doch der Verlust des geopolitisch größten Prestigeprojekts seiner mehr als 20-jährigen Regentschaft könnte eben seine letzte Niederlage sein. Diese Risikoabwägung wird Kiew zu treffen haben. Gut möglich, dass europäische Partner dabei wieder bremsen und die Rückeroberung der Krim trotz aller militärischen Möglichkeiten eine Sehnsucht bleibt. (Fabian Sommavilla, 31.12.2022)