Seit 37 Jahren ist sie Richterin, seit 22 Jahren leitet sie das Bezirksgericht Döbling in Wien und von 1998 bis 2007 war sie die erste Frau an der Spitze der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter. Ende Jänner geht Barbara Helige in Pension: Zeit für eine Tour d’Horizon über Rechtsstaat, Justiz und verpasste Chancen, selbige zu reformieren.

STANDARD: Fast 40 Jahre haben Sie in der Justiz gearbeitet. Was war das Aufregendste daran?

Helige: Die Zeit, als 2000 die schwarz-blaue Bundesregierung gebildet wurde, war in meiner Richtervereinigungszeit sehr bestimmend. Was mir im Rückblick so leidtut, ist die verpasste Chance des Verfassungskonvents (Österreichkonvent, 2003 bis Jänner 2005;_Anm.) an dem wir intensiv mitgearbeitet haben und der sich völlig in Luft aufgelöst hat. Wir haben gute Konzepte erarbeitet, die jetzt wieder hervorgeholt werden, 20 Jahre später. Für mich war natürlich auch die Zeit 2011 bis 2013 ein massiver Einschnitt, in der ich die Untersuchungskommission zum Wiener Kinderheim Wilhelminenberg geleitet habe. Als Richterin wusste ich natürlich, was es alles gibt im Leben – aber das ging weit darüber hinaus.

Räumt man nach Missständen wirklich auf und setzt mutige gesetzliche Schritte, wie einst nach dem Weinskandal, kann das läuternde Wirkung haben, argumentiert Richterin Barbara Helige.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Wären die Ideen des Verfassungskonvents umgesetzt worden: Welche Probleme hätten wir heute nicht? Stichwort Bundesstaatsanwalt, Korruption, Informationsfreiheit.

Helige: Ein wesentliches Thema war für uns damals die Stärkung der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, jetzt werden Teile davon umgesetzt, etwa die Bestellung der OGH-Präsidenten mittels Personalsenat statt durch die Politik. Und es ging damals schon um die Loslösung der Staatsanwaltschaft aus der Weisungskette der Politik.

STANDARD: Jetzt soll der von Ministerin oder Minister weisungsunabhängige Bundesstaatsanwalt kommen, die Koalition ist noch uneins. Der Bundesstaatsanwalt könnte also seit zwei Jahrzehnten Realität sein?

Helige: Ja, mit der Bundesstaatsanwaltschaft hätten wir uns viel erspart. Denn gerade jetzt wurde ganz deutlich, wie notwendig diese Loslösung der Staatsanwaltschaft ist. Seit der Reform der Strafprozessordnung (StPO) 2008 führen die Staatsanwaltschaften auch die Ermittlungen, haben also mehr Befugnisse als davor. Es wurde daher für die politischen Entscheidungsträger noch interessanter, ihren Einfluss nicht zu verlieren. Spätestens mit Inkrafttreten der StPO-Reform hätte man die Staatsanwaltschaft aus dieser verhängnisvollen Abhängigkeit von der Politik, aus der Weisungsbefugnis des Ministers befreien müssen.

STANDARD: Woran ist es gescheitert?

Helige: Am politischen Willen. Es gab nicht viele, die das wollten. Auch heute wird oft argumentiert, dass eine Bundesstaatsanwaltschaft der Kontrolle des Parlaments unterliegen muss, aber ich sehe das nicht so, besonders bei Weisungen in Einzelstrafsachen ist mir das nicht nachvollziehbar. Man muss ja bedenken: Staatsanwälte werden vom Bundespräsidenten ernannt – und der Bundespräsident ist jenes Organ in unserem Staat, das direkt vom Volk gewählt wird. Das müsste eigentlich reichen. Ich glaube, es ging immer darum, den politischen Einfluss zu bewahren.

STANDARD: Viele haben am Konvent mitgearbeitet, nichts kam raus. Fühlt man sich da nicht veräppelt?

Helige: Wir waren schon sehr enttäuscht. Aber wir haben die Papiere erarbeitet und die kann man immer nützen, zum Teil geschieht das jetzt. Der Verfassungskonvent wäre aber auch in anderen Bereichen sehr wichtig gewesen, eines der Anliegen war ja auch, die sozialen Grundrechte in der Verfassung zu verankern.

STANDARD: Was bis heute nicht geschah und was Sie als Präsidentin der Österreichischen Liga der Menschenrechte immer wieder fordern. Was hätte der Einzelne davon, stünde etwa das Recht auf Wohnen in der Verfassung?

Helige: Dann wäre der Gesetzgeber verpflichtet, Möglichkeiten zu schaffen, das Recht auf Wohnen umzusetzen, in den verschiedensten Bereichen bis hin zu Flächenwidmungen. Oder ein anderes Beispiel: Hat jemand das Recht auf soziale Absicherung, muss er nicht um Almosen zum Staat kommen. Der Verfassungskonvent hätte einen wesentlichen Schritt in der Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung Österreichs setzen können, aber die Politik war nicht bereit dazu. Dazu hätte es mehrere ganz starke Persönlichkeiten in allen Parteien gebraucht.

STANDARD: Wir könnten bei wichtigen Gesetzesreformen jedenfalls schon um 20 Jahre weiter sein?

Helige: Mindestens, denn wir sind ja noch nicht einmal so weit. Heute werden bei den Reformplänen Dinge miteinander verknüpft, die nichts miteinander zu tun haben. Nehmen Sie nur die Etablierung der Bundesstaatsanwaltschaft: Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP; Anm.) will dem nur zustimmen, wenn im Gegenzug die Beschuldigtenrechte ausgebaut werden. So findet die Politik immer wieder Möglichkeiten etwas zu verschieben, und das ist enttäuschend.

STANDARD: Die Koalition streitet auch noch immer um die Reform des Korruptionsstrafrechts, die ÖVP bremst. Wie wichtig wäre eine Verschärfung?

Helige: Ein gutes Korruptionsstrafrecht wäre ein Meilenstein und enorm wichtig. Denn Korruption zerstört den Staat, das sieht man in anderen Ländern.

STANDARD: Als Sie 1985 als Richterin begannen, flog der Weinskandal auf. Danach freilich entwickelten sich Österreichs Weine zu Spitzenprodukten. Wäre es möglich, dass Chat-, ÖVP-Korruptions- und Steueraffären auch mit einer solchen Katharsis enden?

Helige: Ich war Richterin in Bruck an der Leitha und stand vor der Aufgabe, 500.000 Liter Wein vernichten zu lassen. Den konnte man ja nicht einfach in die Leitha schütten, wir haben ihn nach Ostdeutschland verkauft, wo er zu Schnaps gebrannt wurde. Jedenfalls: Damals hat man mit dem neuen Weingesetz einen sehr mutigen und weitgehenden Schritt gesetzt, es wurde richtig aufgeräumt. Und wenn man wirklich aufräumt, kann das schon so eine läuternde, kathartische Wirkung haben. Aber Aufräumen muss man sich trauen. Das Interessante heute ist, dass die Bevölkerung ja ein scharfes Korruptionsstrafrecht will. Die Frage ist also: Wovor fürchtet man sich? Geht es nur um den eigenen Einfluss?

Österreichs Bundesregierung unter Kanzler Fred Sinowatz (SPÖ; Bildmitte) 1985 bei einem Gipfeltreffen zum Weinskandal.
Foto: www.votava.at/Votava 1110 Wien

STANDARD: Offenbar.

Helige: Das Problem liegt auch darin, dass sogar bestritten wird, dass es Korruption gibt, da wird viel schön geredet. Das war beim Weinskandal anders, da konnte man nichts mehr schönreden. Ich finde, man soll sich hinstellen und sagen: "Wir machen Tabula rasa." Alle Parteien, die an einem demokratischen Rechtsstaat interessiert sind, sollten das tun. Denn das sinkende Vertrauen in die Politik ist gefährlich – dass es nicht noch gefährlicher ist, verdanken wir den Gerichten, denn das Vertrauen in sie ist intakt. Auch der Verfassungsgerichtshof präsentiert sich sehr sachbezogen und in keiner Weise mit politischer Schlagseite, er ist ein echtes Bollwerk der Verfassung. Wäre das anders, wäre die Situation in Österreich viel schlimmer. Auch die Einrichtung der WKStA war ein wichtiger Schritt, aber nun muss man ihr auch zeitgemäße Gesetze an die Hand geben.

STANDARD: Nicht nur die Reform des Korruptionsstrafrechts ist noch nicht umgesetzt, auch beim Informationsfreiheitsgesetz, also bei der Abschaffung des Amtsgeheimnisses, spießt es sich noch. "Da könnt ja jeder kommen und etwas vom Amt wissen wollen", scheint die Devise zu lauten. Ein Zeichen, dass Österreich noch ein Untertanenstaat ist?

Helige: Ja, ganz sicher. Dabei wäre die Informationsfreiheit ein höchst notwendiger Sprung für Österreich, umso mehr als dort, wo es transparent zugeht, meist sauber gearbeitet wird. Man muss einfach das Prinzip umdrehen: Prinzipiell darf man wissen, was passiert und nur in bestimmten Fällen gibt es davon Ausnahmen. Mit der Abschaffung des Amtsgeheimnisses würde man die Verwaltung wirklich reformieren, aber ich fürchte, dass man in dem Bereich billige Kompromisse eingehen wird.

STANDARD: Die ÖVP und Sebastian Kurz haben die WKStA massiv attackiert. Gab es so etwas früher auch?

Helige: Ja, das kam immer wieder vor. Jörg Haider etwa griff die Justiz immer wieder massiv an und auch die SPÖ hat das einst getan. Die Frage ist aber, inwiefern man nur kritisiert, was einem politisch nicht gefällt oder ob man dem auch politisch Veränderungen folgen lässt. Bei der WKStA wurden tatsächlich neue Berichtspflichten eingeführt, wenngleich wieder zurückgenommen.

STANDARD: Aus diversen Chats wissen wir, wie nah der inzwischen suspendierte Sektionschef im Justizministerium und Ex-Generalsekretär, Christian Pilnacek, oder Ex-Justizminister und Ex-Verfassungsgerichtshof-Richter Wolfgang Brandstetter den Mächtigen waren und wie sie zu bestimmten Causen kommuniziert haben. Gab es so etwas auch schon?

Chatnachrichten unter anderem von Ex-Generalsekretär Christian Pilnacek haben die Republik verändert.
Foto: APA/EXPA/Johann Groder

Helige: Nach meinem Wissen nicht. Pilnacek ist unbestritten ein hervorragender Jurist; der Sündenfall war, dass man im Justizministerium die Legislativsektion und die Sektion für Einzelstrafsachen zusammengelegt hat. Wir in der Richtervereinigung haben vor dieser Supersektion und vor dieser Machtfülle für Sektionschef Pilnacek gewarnt. Dazu kam noch die Installierung von Generalsekretären und die Ministerbüros wurden riesig und zu einflussreich. Da bekommen manchmal nicht einmal mehr Beamtinnen und Beamte Zugang zum Minister oder zur Ministerin. So etwas darf nicht passieren.

STANDARD: Es scheint, als zöge die Politik heute die Grenze nur noch beim Strafrecht. Sind Anstand und Ethik keine Maßstäbe mehr?

Helige: Ganz so ist es nicht, denn diese Maßstäbe verschwimmen nur bei eigenem politischen Fehlverhalten, beim politischen Gegenüber erkennt man sie sehr wohl. Es ist auch eine Frage der Sozialisation und des Berufsethos: Wir bei Gericht haben unsere ethischen Grundsätze schon 1982 festgehalten und 2007 weiterentwickelt – und das bedeutet auch Selbstbeschränkung. In der Politik muss der Druck für ethisches Verhalten von der Zivilgesellschaft kommen.

STANDARD: Zur Wilhelminenberg-Kommission, deren Endbericht Sie 2013 veröffentlicht haben: Die Kinder waren massiver sexueller Gewalt, physischer und psychischer Misshandlung ausgesetzt, die Opfer wurden später entschädigt, der Staat hat sich entschuldigt. Die strafrechtlichen Ermittlungen wurden eingestellt, meist wegen Verjährung. Braucht es manchmal gar keine strafrechtliche Sühne?

Helige: Ich habe bei dieser Arbeit Dinge erfahren, die einen bis ins Mark treffen. Wir haben die Leute gefragt, was sie wollen und den meisten war der Akt der Entschuldigung vom Staat extrem wichtig, wichtiger als strafrechtliche Verfolgung der Täterinnen und Täter. Wobei wir unseren Endbericht der Staatsanwaltschaft übermittelt haben und die hat auf dieser Basis auch einige Leute vernommen. Aber die Taten waren eben größtenteils verjährt.

Ein Schlafsaal im ehemaligen Kinderheim der Stadt Wien auf dem Wilhelminenberg.
Foto: Votava 1110 Wien, www.votava.at

STANDARD: Heute wird im Schloss Wilhelminenberg geurlaubt, geheiratet und gefeiert – ein wenig seltsam, oder?

Helige: Ich könnte dort nicht feiern, aber es wäre auch nichts besser, wenn man das Haus abrisse. Und schauen Sie, hier im Haus des Bezirksgerichts Döbling war einst eine geschlossene Psychiatrie untergebracht, für wohlhabende Patienten – auch da wird Schlimmes geschehen sein.

STANDARD: Was haben Sie persönlich gelernt aus der Kommissionsarbeit?

Helige: Dass man ununterbrochen an den Menschenrechten arbeiten muss. Vor allem bei Leuten, die hilfsbedürftig sind und isoliert leben, etwa im Pflegebereich, darf man das nie aus den Augen lassen und auch die Kontrolle ist da sehr wichtig. Bei den Menschenrechten darf man sich nie ausrasten, nie nachlassen. Diesem Thema werde ich mich nun in meiner Pension voll widmen, in der Menschenrechtsliga.

STANDARD: Die Vorsteherinnen und Vorsteher aller Wiener Bezirksgerichte haben Ende November eine Personal-Notstandsmeldung ans Ministerium geschickt, es fehlt ihnen vor allem an Kanzleimitarbeitern und an manchen Gerichten gefährdet das den Betrieb. Haben Sie schon eine Antwort bekommen?

Helige: Nein, so schnell geht das nicht. (Renate Graber, 8.1.2023)