Der Praça dos Três Poderes – der Platz der drei Gewalten – ist, wie der Name zweifellos verrät, das Zentrum, das Herzstück der brasilianischen Demokratie. Regierungssitz, Nationalkongress und Oberster Gerichtshof stehen sich hier gegenüber an diesem Knotenpunkt der Hauptstadt Brasília, die einst als monumentales Symbol für ein modernes und demokratisches Brasilien konzipiert wurde. Niemand Geringerer als der weltberühmte Architekt Oscar Niemeyer ließ seine Kreativität in diese imposanten Gebäude einfließen.

Dass nun tausende Demonstranten und Demonstrantinnen nahezu ungehemmt in diesen Gebäuden wüten konnten, ist ein Schock und ein Frontalangriff auf die brasilianische Demokratie. Und natürlich erinnern diese verstörenden Bilder an den Sturm auf das US-Kapitol fast genau zwei Jahre zuvor. Auch der Anlass ist derselbe: Da wie dort wollten Donald Trump sowie Jair Bolsonaro ihre Niederlage bei der Präsidentschaftswahl nicht akzeptieren. Stattdessen sägten sie an den Grundpfeilern der Demokratie, deren Spielregeln sie nur dann einhielten, wenn sie daraus einen Nutzen ziehen konnten.

Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro stürmten mehrere Regierungsgebäude in Brasília.
Foto: IMAGO/Fotoarena/Eduardo F S Lima

Unter ihrer Anhängerschaft verbreiteten sie das Verschwörungsnarrativ, dass ein "tiefer Staat" ihre Wiederwahl verhindert habe – und dass man dagegen vorgehen müsse, notfalls auch mit Gewalt. Dass sich die beiden als Staatsoberhäupter wunderbar verstanden haben und Bolsonaro sich derzeit in Florida aufhält – also just dort, wo Trump seinen Wohnsitz hat –, passt da gut ins Bild.

Traumatische Ereignisse

Doch zwischen dem "Original" und dem "Plagiat" gibt es wesentliche Unterschiede. Ein Teil der brasilianischen Unternehmerschaft etwa unterstützt Bolsonaro und seine Anhänger mit dem Ziel, die weitere Rodung des Regenwaldes zu erreichen. Einigen von ihnen wird vorgeworfen, die Busse bezahlt zu haben, die die Demonstranten nach Brasília befördert haben. Derlei Unterstützung gab es in den USA nicht.

Ähnlich waren die mehr als mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen. Während man in Washington, D.C., aber überrascht wurde, gab es in Brasilien monatelang Hinweise auf solch einen Sturm. Dass die Sicherheitskräfte trotzdem so unvorbereitet waren bzw. sogar mit den Angreifern sympathisierten, liegt möglicherweise an einer pikanten Personalie: Im Hauptstadtdistrikt war seit 1. Jänner Anderson Torres für die Sicherheit zuständig – ein enger Vertrauter Bolsonaros, unter dem er auch Justizminister war. Vermutet wird nun, dass er aus Kalkül die Gefahr ignoriert hat. Mittlerweile ist er seinen Job los. Torres war während der Randale übrigens in Florida – zu Besuch bei Bolsonaro.

An Präsident Luiz Inácio Lula da Silva liegt es nun, die traumatischen Ereignisse aufzuarbeiten. Das ist ohne Übertreibung eine Herkulesaufgabe. Zu dem Widerstand vieler Unternehmer kommt: Es regieren in den meisten Bundesstaaten Vertreter des rechten Lagers, auch in beiden Parlamentskammern verfügt Lulas Partei nicht über eine Mehrheit. Als Präsident knüpfte Bolsonaro zudem enge Bande mit dem Militär. Generäle wurden Minister, insgesamt erhielten wohl tausende Militärs zivile Regierungsjobs. Die geben sie ungern ab.

Die Voraussetzungen für eine gründliche Aufarbeitung sind in Brasilien also wesentlich schlechter als in den USA. Und dort ist man zwei Jahre später noch intensiv damit beschäftigt. Wie gesagt: eine Herkulesaufgabe. (Kim Son Hoang, 9.1.2023)