"Etwas entspannt" habe sich die Personalsituation an Wiener Pflichtschulen seit Herbst, sagt die Bildungsdirektion – aber nur, weil zu einem Großteil auf Studierende und Quereinsteiger zurückgegriffen wird.

Foto: APA/AFP/INA FASSBENDER

Eigentlich ist Esma M. (Name von der Redaktion geändert) vom Modell der verschränkten Ganztagsschule angetan: Da dauert der Schultag von 8 bis 16 Uhr. Da gibt es zwei Lehrerinnen pro Klasse, zumindest in den Hauptfächern, und einen Freizeitpädagogen, der den Kindern zwischendurch spielerische Auszeit vom Lernen gibt. Dazu kommt eine breite Palette an Freizeitprogrammen – vom Singen im Chor über Schachklubs bis hin zur Schülerzeitung. Mit diesem innovativen Modell rühmt sich die Stadt Wien. Esma M. leitet eine solche Volksschule. Doch ihre Begeisterung ist längst abgeflaut.

Denn das Freizeitprogramm gibt es in der Form nicht mehr. "Also genau das, wofür Eltern ihre Kinder an unsere Schule geben", sagt die Direktorin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Auch spezielle Förderungen könne sie nicht mehr abdecken: Dazu gehöre etwa die Legasthenie-, aber auch die Deutschförderung, die gerade Kinder, die aus den Deutschförderklassen in den Regelunterricht wechseln, weiterhin benötigen würden. Momentan gelte das triste Prinzip: "Hauptsache, den Grundunterricht abdecken."

Quereinstieg als Patentrezept

So weit konnte es in der Simmeringer Volksschule nur kommen, weil Esma M. mehr Lehrer benötigt, als der Schulmarkt hergibt. In ganz Wien fehlten im Herbst noch 170 vollbeschäftigte Lehrkräfte – in Wahrheit also weit mehr. Die Personalnot in Wiens, aber auch in Österreichs Klassenzimmern ist eines der drängendsten Probleme im Bildungssektor. Und das will auch die Politik erkannt haben: Das Patentrezept vom Bildungsministerium bis hin zu politischen Bildungsverantwortlichen in den Ländern dafür lautet Quereinstieg. Doch bis Praktiker in die Klassenzimmer nachrücken, wird noch Zeit vergehen. Zeit, die Direktorinnen wie Esma M. nicht wirklich zu haben scheinen.

"Momentan fehlen uns dreieinhalb Lehrer", sagt die Direktorin. Teamteaching, wie an der Ganztagsschule vorgesehen, gibt es nicht mehr – jetzt gebe es nur mehr eine Lehrkraft und einen Freizeitpädagogen. "Zwei Lehrerinnen stehen sogar 28 Stunden in der Klasse. Und da ist die Vor- und Nachbereitung noch gar nicht dabei." Vollzeit wären es normal 22 Stunden. Außerdem müsse auch sie verstärkt auf Studierende zurückgreifen. In welchem Ausmaß, mag dann doch überraschen: "Die Hälfte unseres Personals studiert noch." Darum gebe es ein Kommen und Gehen beim Personal.

Die Ganztagsschule von Esma M. ist laut Lehrergewerkschaft kein Einzelfall: Überall müssten Angebote und pädagogische Leistungen zurückgefahren werden.
Foto: INA FASSBENDER

Vor Weihnachten gekündigt

Gegangen sind in ganz Wien im letzten Monat einige: Laut Gewerkschaft haben allein im Dezember 35 Pflichtschullehrerinnen gekündigt. Zum Vergleich: Bei der Wiener Polizei waren es gleich viele – aber im ganzen Jahr 2022. Und: Auch vier Monate nach Schulstart würden immer noch klassenführende Lehrerinnen an Volksschulen fehlen. Deswegen sind auch schon Lehrerinnen abgezogen – "und ohne angemessene, wertschätzende Kommunikation" anderen Standorten zwangsweise zugeordnet worden, sagt Wiens oberster Lehrervertreter Thomas Krebs (FCG). Die Wiener Landesregierung würde jedoch die höchst angespannte Situation weiterhin ignorieren. Wie ernst ist die Lage aber tatsächlich?

Für rund "ein Dutzend Volksschulklassen" (von insgesamt 4.000 in Wien) fehle noch eine dauerhafte Klassenführung, räumt die Bildungsdirektion ein. "Qualitativer Unterricht findet aber selbstverständlich in allen Klassen statt", wird auf STANDARD-Nachfrage betont. Bei den Ganztagsschulen könne es "punktuell aufgrund kurzfristiger Krankenstände zu Engpässen" kommen. Hier werde aber versucht, Lösungen zu schaffen – wenn die Personalvertretung konkrete Schulen nennt. In Esmas Fall hängen die Engpässe allerdings nicht mit Krankenständen zusammen.

450 neue Lehrkräfte seit Herbst

Eine Maßnahme dürfte aber gefruchtet haben: Seit diesem Schuljahr sind ganzjährig Bewerbungen möglich. Weil nun jeden Monat Lehrer angestellt werden, habe sich die Lage "etwas entspannt", heißt es von der Bildungsdirektion. 450 Lehrkräfte konnten seit Schulbeginn neu dazugewonnen werden, die Hälfte davon an Volksschulen. Immerhin: Es scheint, als wäre der Pool an verfügbaren (angehenden) Lehrerinnen also doch noch nicht ganz ausgeschöpft.

Nach Simmering hat es allerdings niemanden verschlagen. Zwar sei die Bildungsdirektion bemüht, "dennoch warte ich schon seit September, dass sich jemand meldet", sagt Esma M. Dass sie und ihre Lehrkräfte die Personalnot mit voller Wucht zu spüren bekommen, hat für die Direktorin mehrere Gründe. Es fange damit an, dass Lehrkräfte kein Freizeitangebot mehr machen dürfen. "Weil es der Politik zu teuer geworden ist." Mit Freizeitpädagogen, die "günstiger" seien, sei die Stundenplangestaltung aber oftmals schwierig.

"Mangelnde Wertschätzung"

Was in ihrem Fall dazukommt, ist die geografische Lage: Am Stadtrand seien Esma M. Lehrkräfte aus Niederösterreich und dem Burgenland weggebrochen. Ihre Erklärung: Das Parkpickerl, das letztes Jahr auf die Randbezirke ausgeweitet wurde – und nun die schulischen Pendler trifft, wie die Wiener ÖVP und die Gewerkschaft seither beklagen. "Viele gehen dann lieber in ihre Nachbardörfer."

Egal ob Parkkosten oder die Überladung mit administrativen Aufgaben: "Die Politik muss schon versuchen, die Lehrer zu halten und ihnen Wertschätzung entgegenzubringen – auch symbolischer Natur", meint Esma M. Das scheint notwendiger denn je: Denn Wien wächst – und damit auch der Bedarf an ausgebildeten Pädagoginnen. (Elisa Tomaselli, 13.1.2023)