Raphaela Edelbauer unterrichtet Sprachkunst an der Angewandten. Sie interessiert sich für Philosophie genauso wie für Computerspiele.

Foto: Apollonia Bitzan

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs sitzt der 17-jährige Knecht Hans Ranftler im Zug von Tirol nach Wien. Nicht um sich zur k. k. Armee einziehen zu lassen wie andere junge Männer. Sondern um von einer Psychoanalytikerin seine besondere Fähigkeit behandeln zu lassen: Er kann voraussehen, was Menschen sagen werden.

Die Inkommensurablen heißt Raphaela Edelbauers neuer Roman. Nach der Gegenwart und deren Problemen bei der Nazivergangenheitsbewältigung (Das flüssige Land, 2019) und der Zukunft im Angesicht künstlicher Intelligenz (das 2021 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnete Dave) nimmt sich die 1990 geborene Wienerin diesmal die Vergangenheit vor. Zeit der Handlung sind etwa 36 Stunden rund um die Mobilmachung am 31. Juli 1914.

Schon die Ankunft am Südbahnhof haut Hans um: Es zischt, wurlt, glänzt golden. Die pferdelose Tram? "Ein Münchhausenzug, der sich am eigenen Zopf in Richtung Stadt zog."

Riesenhafte Laibe, springende Fuhrwerke

Mit Hans ist auch der Leser baff. Die Inkommensurablen ist ein schneller, bunter Text. Brotlaibe sind nicht groß, sondern "riesenhaft", und man isst davon nicht, sondern hält sich daran "schadlos". Fuhrwerke "springen" aus Gassen hervor, Gesang "verstopft" ein Kirchenschiff.

Die originellen Adjektive und viel Aktion machen Spaß. Man denkt an die k. k. Monarchie beschreibende Giganten wie Joseph Roth und Stefan Zweig, auf deren Schultern Edelbauer sich stellt. Im Vergleich nimmt sich Die Inkommensurablen aber wie seine eigene Robert-Dornhelm-Historienverfilmung aus. Das liegt nicht nur daran, dass die Sprache manchmal zu viel Plastizität will und dann schief wird. "Kraterlandschaften aus Fleisch, wie mit dem Beil gezogen" geht sich semantisch nicht aus. Krater sind rund und lassen sich folglich weder gut mit dem Beil herbeiführen noch "ziehen".

Wie dem auch sei, Hans findet schnell Anschluss. Auf dem Treppenabsatz der Psychoanalytikerin Helene Cheresch lernt er erst Klara und dann Adam kennen. Auch die haben natürlich das schnöde Bewusstsein übersteigende Begabungen. Klara eine junge Suffragette, Sozialdemokratin und Mathematikstudentin, Adam ein schmächtiger junger Graf mit dem Einberufungsbefehl in der Tasche. Beiden schlägt morgen die Stunde. Unter diesem Zeitdruck zieht die roadmoviehafte Handlung zwischen Prachtpalais, queeren Halbweltlokalen und Universität an.

Die Schrauben lockern

Es bauen sich fabelhafte Szenen auf. Die Leidenschaft Adams, von Kindheit an von väterlicher Härte zum Militär gedrillt, gehört der Musik Arnold Schönbergs. Zusammen mit Gleichgesinnten probt er nicht nur die Kompositionen der Moderne, deren Noten man in der Stadt kaum erhält. Gegen die Zukunftsresistenten bejubeln sie im Musikverein auch die raren Aufführungen. Die "Gesetze des Universums" seien in den Stücken Schönbergs "gelockert", schreibt Edelbauer, auch lösen wollen diese Jungen die Schrauben der alten Gesellschaftsordnung.

Edelbauer schreibt starke Dialoge. Wie sie bei einem Abendessen wenige Stunden später im Palais von Adams Familie Nationalismus, Kriegsidealisierung und Antisemitismus der versammelten, gerade noch den Kaiser beraten habenden Aristokratie aufeinanderkrachen lässt, während Hans mit der Abfolge der Menügänge nicht mehr Schritt halten kann, ist große Kunst.

Das Vokabular ältelt bewusst. Wie Edelbauer ihre literarische Sympathie für die Vorkämpfer des neuen Zeitgeistes ins Spiel wirft, wie sie über knappe plötzliche Rückblenden Traumata der Figuren einflicht, ist ganz heutig. Wenn sie die Anbahnung von lesbischem Sex beschreibt, strotzt das vor der Selbstverständlichkeit des 21. Jahrhunderts, auch wenn es die Zeugen werdenden Figuren teils noch irritiert.

Standardausstattung

Und trotzdem gehört alles, was hier vom Boom des Unterbewussten über die Schönheit der Innenstadtbauten bis zum Elend des Proletariats in den Vorstädten gewissenhaft zusammengefügt wird, im Bild vom Wien der Jahrhundertwende zur Standardausstattung. Man fühlt sich inmitten von viel Staffage: Emanzipation und jugendliches Revoluzzertum haben auch die aktuell zahlreichen Sisi-Serien für sich entdeckt. Man vermisst auf den 350 Seiten zunehmend eine wirklich subversive und aufregende Perspektive. Das liegt auch an Hans’ für die Erzählung zentralem Blick, der naiv und überwältigt durch dieses Wien stolpert.

Die übersinnlichen Begabungen der drei Protagonisten klären sich letztlich als eher irdisch auf: Schuld ist ein massenpsychologisches Experiment. Natürlich müssen Leser diese Auflösung auf die allgemeine Weltkriegsbegeisterung übertragen. Die Inkommensurablen leistet das nicht mehr. Zurück bleibt ob der langen Hinführung der Eindruck einer Unwucht zuungunsten des Gehalts. (Michael Wurmitzer, 13.1.2023)