Das Halbtagsschulsystem zementiert Bildungsungleichheit und die Privatisierung des Schulerfolgs, argumentiert Ilkim Erdost, Bereichsleiterin Bildung in der Arbeiterkammer Wien, im Gastkommentar.

In seinem Gastkommentar rückt Paul Reinbacher die Plädoyers für eine verpflichtende Ganztagsschule aufgrund einer "ambivalenten Forschungslage" den "handfesten Interessen unterschiedlicher Lobbys" nahe ("Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s der Schule gut?", DER STANDARD, 11. 1.). Er nennt Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer – und zeigt einmal mehr, wie wenig Lobby Kinder und Jugendliche in diesem Land haben.

Klar ist: Das Halbtagsschulsystem zementiert Bildungsungleichheit und bietet benachteiligten Schülerinnen und Schülern deutlich weniger Chancen. Das bedeutet für diese Kinder auch weniger Chancen auf einen gutbezahlten Job, Gesundheit, Teilhabe und Zufriedenheit als Erwachsene. Das ist nicht nur ungerecht, es ist auch wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch untragbar.

Das Format der Halbtagsschule ist nicht mehr zeitgemäß.
Foto: Imago Images / Ute Grabowsky

Besonders häufig verlieren dabei Kinder, deren Eltern selbst nur kurze Zeit in der Schule waren oder die eine andere Erstsprache als Deutsch sprechen. Die BildungsStandardüberprüfung 2018 zeigt, dass der Unterschied zwischen Kindern von Eltern mit akademischem Bildungshintergrund und Kindern von Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss etwa in Mathematik am Ende der Volksschule durchschnittlich rund drei Lernjahren entspricht.

Ganztagsschulen können vieles von dem leisten, was die Politik gerne Eltern zuschiebt. Der gute Schulerfolg wird in einem Halbtagsschulsystem zum Großteil ins Private verlagert. Elternhäuser, die über genug Zeit, Geld und Bildung verfügen, können ihr Kind eher zum Lernziel begleiten, Nachhilfe finanzieren oder außerschulische Aktivitäten zur Förderung von Talenten ermöglichen als jene, denen es an diesen Ressourcen mangelt. Zahlreiche nationale wie internationale Forschungsergebnisse zeigen, dass das Halbtagsschulsystem in Österreich nicht in der Lage ist, den Großteil der Kinder umfassend zu fördern.

Aus der Zeit gefallen

Die Halbtagsschule wurde auch nicht aus pädagogischen oder humanistischen Gründen so gestaltet, wie sie ist, sondern ist ein Kind ihrer Zeit: Mit der Einführung der Schulpflicht 1774 unter Maria Theresia ließ das halbtägige Format genug Zeit, damit die bäuerlichen Kinder nachmittags noch auf dem Hof der Eltern mitarbeiten konnten. Den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen vermag sie kaum mehr ausreichend zu begegnen. Ihr Fundament ruht auf Familien- und Erwerbsstrukturen, die auf immer weniger Familien zutreffen.

Es muss endlich Schluss sein mit der Privatisierung des Schulerfolgs! Lernen ist in der Schule zu organisieren und darf nicht länger an Eltern – meist Mütter – ausgelagert werden. Das beinhaltet deutlich mehr als reinen Vormittagsunterricht. Zwar wird über schulischen Förderunterricht, Gratisnachhilfe und weitere Unterstützungsangebote jetzt schon versucht, Schülerinnen und Schülern beim Lernen zu helfen. Diese Unterstützung kompensiert aber nur die inhärenten Mängel eines Halbtagssystems, und Kompensationsmaßnahmen werden meist erst im Laufe des Schuljahres organisiert. Die ungerechtigkeitsfördernden, wissenschaftlich bestätigten Wirkungen der Halbtagsschule zu erkennen und beheben zu wollen wird in Österreich nach wie vor denunziert. In teils fantasievoller Ausprägung wird entweder ein Zwang oder Gleichmacherei hineinprojiziert. Diese Vorwürfe sind aus der Zeit gefallen und entbehren jeder internationalen Erfahrung. Sie sind aber zuvorderst ein Affront gegenüber jenen Kindern, für die ein gerechtes Schulwesen die wertvolle Chance ist.

Die Halbtagsschule einfach auf den ganzen Tag auszuweiten macht aber wenig Sinn. Weder wäre dies lernwirksam noch für Kinder förderlich. Es braucht echte Ganztagspädagogik. Bei der verschränkten Ganztagsschule wird der Schulalltag zwischen Lern-, Freizeit-, Interessen- und Begabungsförderung abwechselnd organisiert. Durch die Verschränkung über den Tag hinweg können die pädagogischen Konzepte zeitlich und räumlich flexibler gestaltet werden. Methoden wie individualisierte Lernzugänge, "peer education", Projektunterricht sowie eine offenere zeitliche und räumliche Pädagogik werden durch Ganztagspädagogik möglich.

Mehr üben und fragen

Es braucht zukünftig eine Schule, die neben dem Unterricht auch Zeit zum Üben und Fragenstellen vorsieht, die über den gesamten Schultag Anregungspotenzial für Schülerinnen und Schüler bieten kann, wie Projekte, Freizeiteinheiten oder stimulierende Vereinstätigkeiten. Kurz: Es braucht Ganztagsschulen für jedes Kind in seiner Wohnumgebung, kostenlos für Familien zugänglich und bedarfsgerecht finanziert. Sind sie qualitätsvoll ausgestattet, liefern sie einen wichtigen Beitrag für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sind ein Standortfaktor für Gemeinden und fördern Bildungsgerechtigkeit. Dennoch sind Ganztagsschulen und Nachmittagsbetreuung noch immer die Stiefkinder der österreichischen Bildungspolitik. Nicht fertig gedachte Konzepte führen zu unklaren Verantwortlichkeiten und deutlichen Abstimmungsproblemen zwischen den Akteuren. Der Ausbau geht langsamer voran als ursprünglich geplant, da es sowohl an Personal als auch an Finanzierung mangelt. Dadurch kann das Ziel, die Chancengerechtigkeit von Kindern zu erhöhen, nicht erreicht werden.

Es braucht eine deutliche Vereinfachung der Kompetenzen, eine Verlässlichkeit und Planbarkeit der langfristigen Finanzierung und auch eine pädagogische Professionalisierung. Wäre die laufende Finanzierung über den Finanzausgleich gesichert, wäre dies ein wichtiger Anreiz, auch im ländlichen Raum die Angebote auszubauen.

Wir können und wollen es uns nicht mehr leisten, auch nur einem einzigen Kind die Chance auf persönliche Entfaltung und ein erfülltes Leben zu nehmen, weil wir an einem Schulmodell der letzten Jahrhunderte festhalten. Das sind wir allen Kindern und Familien schuldig. (Ilkim Erdost, 16.1.2023)