Zum Glück ist Wien wieder anders, sagt der Soziologe Roland Atzmüller. Im Gastkommentar beleuchtet er, aus welcher Tradition sich der heutige Anti-Wien-Reflex speist.

"Dann wäre Wien noch Wien."
Niederösterreichs FP-Landesrat Waldhäusl stößt in einer Talkshow nicht nur eine Wiener Schulklasse vor den Kopf.

Gottfried Waldhäusl meint also, dass Wien noch Wien wäre, wäre der FPÖ Folge geleistet worden. Aber welches Wien meint Waldhäusl denn? Wann war dieses Wien, dass Wien nun nicht mehr ist? Das Wien vor den Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte, so die unverhohlene Aussage. Aber damit kann er nur das Wien nach 1945, also nach der nationalsozialistischen Herrschaft meinen. Er meint wohl nicht das Wien der Jahrzehnte davor, über das Adolf Hitler in Mein Kampf geschrieben hatte: "Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt zeigte, widerwärtig dieses ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben und Kroaten usw. zwischen allem aber als ewiger Spaltpilz der Menschheit – Juden und wieder Juden. Mir erschien die Riesenstadt als die Verkörperung der Blutschande." (Zitiert aus Michael John, Albert Lichtblau: Schmelztiegel Wien, 1993.) Oder über das Joseph Goebbels im April 1945 in seinem Tagebuch noch festhielt: "Der Führer hat die Wiener schon richtig erkannt. Sie stellen ein widerwärtiges Pack dar." (ebd.)

Wien war in den ersten Jahrzehnten nach 1945 eine langweilige und kulturell öde Stadt.
Foto: Picturedesk / Leber

Wien nach 1945 war die Stadt, aus der die Nazis mehr als 126.000 Jüdinnen und Juden vertrieben und die sie Ende 1942 als "judenfrei" erklärten. Nur wenige der Überlebenden kehrten zurück.

Es war aber auch die Stadt, in der die tschechische Bevölkerung "und sonstige Fremdvölkische" drangsaliert und zur Loyalität gezwungen wurden, von der Namensänderungen von Watzlawick zu Waldheim, von Hojac zu Westenthaler zeugen.

Die geplante "Ausmerzung und Aussiedlung der tschechischen Minderheit", die Baldur von Schirach nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich ankündigte, hätte die Deportation von 400.000 bis 500.000 Menschen aus der Stadt bedeutet. (Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien, 2008.)

Verfolgt und vertrieben wurden aber auch tausende politische, vor allem linke Oppositionelle und Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler, Wissenschafterinnen und Wissenschafter, homosexuelle und queere Personen, von denen viele nach 1945 ebenfalls nicht mehr zurückkehrten – oft auch weil dies bewusst verhindert wurde.

Nachwirkungen bis heute

Die Herrschaft des Nationalsozialismus in Wien war ein Versuch, die Stadt und ihre Bevölkerung im Sinn seiner ideologischen Vorstellungen zu verändern. Die Nazis sahen in ihr den Hort all dessen, was sie an der modernen Gesellschaft ausmerzen wollten: ethnische Vielfalt, Emanzipationsmöglichkeiten benachteiligter Gruppen, kulturelle Freiheiten, politischer Widerstand, die sozialpolitischen Reformen des Roten Wien. Die antiurbane Ideologie stellt ein wesentliches Element der politischen Mobilisierung der extremen Rechten, aber auch des Konservatismus seit dem 19. Jahrhundert dar. Sie fand in der Naziherrschaft ihre tödliche Konsequenz, die bis heute nachwirkt.

Der heute noch existierende Anti-Wien-Reflex, der von manchen politischen Parteien mobilisiert wird, muss sich fragen lassen, inwiefern er sich heute noch aus dieser Tradition speist. Dass Wien in den ersten Jahrzehnten nach 1945 in vielen zeitgenössischen Beschreibungen als langweilige, graue, kulturell öde Stadt, in der sich die Freiräume und Lebensmöglichkeiten der Urbanität auf kleinste Gruppen und wenige Orte beschränkten, geschildert wird, überrascht nicht. Das war das Wien, das Waldhäusl meint und den Rechten kein Dorn im Auge ist.

Divers und vielfältig

Dass Wien heute wieder anders ist, dass es sich um eine diverse und vielfältige Großstadt handelt, ist vor diesem Hintergrund, bei allen Problemen, Konflikten und Widersprüchen, die damit einhergehen, gelebter Antifaschismus. Dass das für jemand wie Waldhäusl ein Problem ist, sagt eigentlich alles. (Roland Atzmüller, 10.2.2023)