Wiedersehen: Oleksandra (37) mit ihren beiden Kindern Anna (15) und Volodymyr (9) in ihrer neuen Wohnung in Wien.
Foto: www.corn.at / Heribert Corn

"Ich möchte so bald wie möglich wieder in die Ukraine zurück", sagte Olga (45), als wir sie im Mai 2022 in einem kleinen Haus in Niederösterreich trafen. Damals war sie mit ihren vier Töchtern und ihrer 80-jährigen Mutter aus der zentralukrainischen Stadt Dnipro geflohen, einer Stadt, die bis heute von Russland bombadiert wird. Als wir sie nun wieder kontaktieren wollen, ist die Telefonnummer nicht mehr verfügbar. Ob Olga und ihre Familie tatsächlich in ihre Heimat zurückgekehrt sind? Sind sie in ein anderes Land weitergereist? Wir können es nicht feststellen. Seit Beginn des brutalen Angriffkriegs Russlands haben laut UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) etwa 18,4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Heimat verlassen. Über 91.000 ukrainische Vertriebene wurden seither in Österreich registriert, davon sind zwei Drittel Frauen. Etwa 15 Prozent der Vertriebenen haben in Österreich einen Job gefunden, die meisten davon im Gastronomiebereich. Laut Österreichischem Integrationsfonds (ÖIF) und AMS besucht fast die Hälfte einen Deutschkurs. Viele der Geflüchteten sind wieder in die Ukraine zurückgekehrt.

Vor zehn Monaten sprach DER STANDARD mit vier ukrainischen Frauen über ihre dramatische Flucht, die Sorge um ihre zurückgelassenen Männer, die ersten Wochen im neuen Land. Drei der Frauen leben nach wie vor in Österreich. Wir haben Inna, Taisiia und Oleksandra erneut getroffen, um zu erfahren, wie sich ihre Situation verändert hat.


"Ich möchte endlich einen Job finden!"

Oleksandra, Politikwissenschafterin

Die Familie musste innerhalb eines Jahres fünfmal in Wien umziehen.
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Den 24. Februar 2022 wird Oleksandra nie vergessen. Ihr Mann rief sie am Morgen am Handy an: "Du musst die Kinder nehmen und sofort das Land verlassen." Dann ging alles ganz schnell. Nach vier Tagen Autofahrt kam die Familie schließlich in Wien an. Ihr Sohn Volodymyr hat seither in Österreich seinen 9. Geburtstag gefeiert, ihren 37. sie selbst. Fast ein Jahr ist es nun her, dass sie ihren Mann das letzte Mal gesehen hat. Auch wenn Oleksandra sich mit der Situation in gewisser Weise arrangiert hat, meist gefasst wirkt – fragt man nach ihrem Mann, schießen ihr sofort die Tränen in die Augen, sie verstummt. Die Sehnsucht ist gewaltig, sie vermisst ihn wahnsinnig. Er arbeitet für das Militär, wurde gerade von Tscherkassy nach Kiew versetzt. Jeden Abend telefonieren Oleksandra und die Kinder mit ihm. "Am Telefon sagt er immer, dass es ihm gutgeht. Aber man kann sich vorstellen, dass das nicht stimmt. Er sagt das nur, um mich zu beruhigen", sagt Oleksandra.

Zurück ins Leben

Oleksandra möchte irgendwann wieder in die Ukraine, zurück in ihr altes Leben. Sie war Professorin an der Universität und politische Beraterin. Sie hatte eine Karriere. Hier ist sie nur ein Flüchtling, eine alleinerziehende Mutter, die auf die Hilfe anderer angewiesen ist. "Das belastet mich sehr." Schon wenige Tage nach ihrer Ankunft in Wien hat Oleksandra mit der Jobsuche begonnen. Sie hat sämtliche NGOs, Unis und politische Parteien kontaktiert. "Die Menschen reagieren sehr positiv auf mich – aber keiner will mich einstellen!" Die mangelnden Deutschkenntnisse seien dabei gar nicht so sehr das Problem: "Die Firmen haben natürlich Angst davor, jemanden einzustellen, der bald das Land verlassen könnte." Oleksandra will sich nicht entmutigen lassen. Die Integration in Österreich ist ihr sehr wichtig. Sie besucht jeden Tag einen dreistündigen Deutschkurs, die A2-Prüfung hat sie bereits absolviert.

Ukraine-Klassen, nein danke!

Weniger erfreut ist sie über die Deutschkenntnisse ihrer Kinder. Ihre Tochter Anna (15) besucht in Wien eine Integrationsklasse, die Lehrerin spricht Russisch. "Das ist für Anna eine Katastrophe", sagt Oleksandra. "Es ist nicht nur emotional schwierig, meine Tochter versteht sie auch nicht."

Laut Bildungsdirektion Wien wurden an Standorten, wo es keinen Platz mehr gibt, separate Ukraine-Klassen eingerichtet. Jedes vierte schulpflichtige Kind aus der Ukraine wird in Wien in einer dieser Klassen unterrichtet. Auch Oleksandras Sohn Volodymyr war bis vor kurzem dort. "Er hat viele Freunde gefunden – nur Deutsch hat er nicht gelernt." Nachdem die Familie fünfmal umziehen musste, da Privatunterkünfte meist nur befristet für ein paar Monate bereitgestellt werden, hat er nun einen Platz in einer normalen Volksschule gefunden. "Natürlich tut er sich schwer, weil niemand ihn versteht. Aber die Lehrer und Kinder sind sehr hilfsbereit."

Oleksandra will für ihre Kinder eine starke Mutter sein. Und trotzdem übermannt sie die Unsicherheit immer wieder: "So etwas wie eine Lebensplanung ist unmöglich, wenn man nicht weiß, wie es weitergeht."


"Unsere Zukunft ist in Österreich"

Inna Kravehenko, Fotografin

Inna Kravehenko (36) mit ihrer Tochter Zlata (9) und Dackel Bona.
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Als Inna uns die Tür zu ihrer Wohnung öffnet, lächelt sie entschuldigend: "Wir haben noch nicht alle Möbel." Sie ist erst vor ein paar Tagen mit ihren beiden Kindern und dem Hund hier eingezogen. In den letzten Monaten davor hat die Familie in einem Haus einer Wiener Kleingartensiedlung gewohnt. Bei ihrer Flucht nach Österreich sprach Inna kein Wort Deutsch, nur ein paar Brocken Englisch, die Verständigung war schwierig.

Zehn Monate nach unserem Wiedersehen ist das anders. Inna besucht derzeit gleich zwei Deutschkurse. "Sprachen sind nicht meine Stärke", lacht sie. Ihre neunjährige Tochter hätte es da leichter: Zlata sei komplett integriert, sie spricht nach den wenigen Monaten in Österreich fast fließend Deutsch. Die Neunjährige besucht seit ihrer Ankunft in Wien eine Volksschule; dort hat sie viele Freundinnen gefunden, "es sind alle Österreicherinnen", sagt Inna. Für ihren Sohn Ihor sei das neue Leben nicht so einfach. "Er ist gerade zwölf geworden und kommt langsam in die Pubertät. Zu Hause in der Ukraine wäre diese Phase aber sicher auch nicht leicht." Derzeit besucht Ihor eine Mittelschule. Die Familie hatte Glück, nicht jedes ukrainische Kind bekommt einen Platz in einer Regelschule. "Ich habe als eine der ersten Geflüchteten um einen Schulplatz angesucht. Mir ist wichtig, dass meine Kinder eine gute Ausbildung haben, ihnen dieser Krieg nicht auch noch in dieser Hinsicht schadet."

Ein neues Netzwerk

Mit dem Vater der Kinder, der schon länger nicht mehr in der Ukraine ist, hat sie eine Beziehungspause. Sie möchte nicht weiter darüber sprechen. Emotionale Unterstützung, Hilfe und Austausch erhalte sie jetzt von anderen geflüchteten Müttern. Im Verein Domivka in Wien, der alleinerziehende Mütter aus der Ukraine bei der Job- und Wohnungssuche unterstützt, hat Inna nicht nur Freundinnen, sondern so was wie eine neue Familie gefunden, sagt sie. "Wenn man allein in ein fremdes Land kommt, kein Wort Deutsch spricht und niemanden kennt, braucht man so ein Netzwerk." Als Dankeschön für die Hilfe engagiert sich Inna als Fotografin ehrenamtlich für den Verein. Manchmal bekommt sie Aufträge für private Paar- oder Schwangerschaftsshootings – auch eine Hochzeit war dabei.

Ihr großer Wunsch ist eine Festanstellung. Im ersten Haus, das eine Gastfamilie zur Verfügung gestellt hat, durfte sie mit ihren Kindern kostenlos leben, die neue Wohnung kostet sie 300 Euro, dazu kommen Strom und Heizung. "Finanziell ist das eine Herausforderung", sagt Inna. Sie ist wie 54.593 andere Vertriebene aus der Ukraine in der Grundversorgung. Das bedeutet, sie erhält als Erwachsene 260 Euro pro Monat Verpflegungsgeld, die Kinder jeweils 145 Euro. Dazu kommt noch das Kindergeld.

"Für mich liegt unsere Zukunft in Österreich", sagt Inna. "Selbst wenn der Krieg endet, ist unser Land zerstört – auch wirtschaftlich. Ich werde als alleinerziehende Fotografin in der Ukraine keinen Job mehr finden." Das macht ihr auch Angst: "Was tue ich, wenn der Krieg endet – und damit die blaue Karte, unser Aufenthaltsrecht?"


"Ich habe hier eine neue Familie gefunden"

Taisiia, Ingenieurin

Taisiia (36) mit Sohn Tymur (14). Das Bild im Hintergrund hat ein österreichischer Freund anfertigen lassen. Es zeigt den Kulturpalast der Chemie ihrer Heimatstadt Sjewjerodonezk.
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Am 17. März letzten Jahres kam Taisiia mit ihrem Sohn Tymur mitten in der Nacht in Wien an. "Es ist ein Wunder, dass wir noch leben", sagte sie damals. Als sie floh, wurde Sjewjerodonezk, ihre Heimatstadt im Osten der Ukraine, angegriffen, während der Evakuierung aus ihrer Wohnung wurde die Familie von russischen Soldaten beschossen. Seit Sommer 2022 ist Sjewjerodonezk vollständig in russischer Hand.

Auch zehn Monaten nach ihrer Flucht fällt es Taisiia schwer, über die traumatische Zeit zu sprechen. Die Hoffnung, wieder in ihren Heimatort zurückzukehren, hat sie aufgegeben. Ihr Zuhause existiert nicht mehr: "Unser Wohnhaus wurde zerbombt."

Während der ersten Zeit in Wien wusste Taisiia nicht, ob ihre Eltern die Angriffe der russischen Streitkräfte überlebt haben. "Sie waren nicht mehr erreichbar, ich wusste nur, dass sie in einem Bunker Schutz vor den Bomben gesucht haben." Mittlerweile hat sie Gewissheit: Ihre Eltern sind in Luhansk, sie haben in einer fremden Wohnung Unterschlupf gefunden. "Sie leben dort unter menschenunwürdigen Umständen", sagt Taisiia. "Die Wohnungen sind halb zerstört, es gibt nicht einmal Fenster." Internet und Handy haben ihre Eltern nicht. Um mit ihr Kontakt zu halten, schreibt ihr Vater einen Brief, geht damit in den nächsten Ort und bittet eine Frau, den Zettel zu fotografieren und per Whatsapp an Taisiia zu schicken. "Die letzte Nachricht kam vor vier Wochen."

Taisiias Mann arbeitet für das Militär, wo er sich genau aufhält, weiß Taisiia nicht. Ihre Telefonate dauern nie lange. "Er friert, hat kein Bett, kaum zu essen", sagt Taisiia. "Ich mache mir große Sorgen."

In all dem Unglück hatte die Familie aber auch Glück. Sandra, ihre Gastgeberin während der ersten Wochen in Wien, hat für Tymur einen Schulplatz organisiert. Mittlerweile leben Taisiia und ihr Sohn in einer eigenen Wohnung. "Wir dürfen hier gratis wohnen, Bekannte übernehmen die Miete. Das ist unglaublich lieb." War es zunächst Hilfsbereitschaft, ist zwischen Taisiia und Sandras Familie mittlerweile Freundschaft entstanden. "Sandras Vater gab mir immer wieder kleine Aufgaben, er wollte mir nicht bloß Geld spenden", sagt Taisiia. Es habe ihrem Selbstwertgefühl gutgetan, wenn sie Gartenarbeiten bei der Gastfamilie übernehmen konnte. "Zu Hause in der Ukraine hatte ich einen eigenen Garten, den vermisse ich."

Neue Freundschaften

Weihnachten verbrachten Taisiia und Tymur mit Sandras Familie, auch Geburtstage werden gemeinsam gefeiert. "Sandra ist nicht nur eine Freundin, sie ist für mich wie eine Schwester", sagt Taisiia. Und es gibt gute Nachrichten: Taisiia hat einen Job gefunden. Sie arbeitet als Technikerin einem Wiener Labor. "Meine Vorgesetzten und Kollegen sind sehr nett, ich bin überrascht über die flache Hierarchie!" Ihr Sohn Tymur besucht eine Ukraine-Klasse. Österreichische Freunde hätte er bisher noch keine. "Aber ich mache mir keine Sorgen. Alles wird gut, er wird sich noch integrieren."

Sie will zuversichtlich bleiben. Für sich, für Tymur – und für ihre Heimat: "Ich gebe nie auf – und ich hoffe, dass die Ukraine auch nie aufgibt!" (Nadja Kupsa, 19.2.2023)