Der Palast der Jugend in Lwiw.

Foto: dmytro soloviov

Eine Wohnsiedlung in Kiew.

Foto: dmytro soloviov

Dmytro Soloviov fand nicht in seiner ukrainischen Heimat zur Architektur, sondern in Polen.

Foto: dmytro soloviov

Krematorium in Kiew.

Foto: dmytro soloviov

Palast in Lwiw.

Foto: dmytro soloviov

Sein architektonisches Erweckungserlebnis, sagt Dmytro Soloviov, fand nicht in seiner ukrainischen Heimat statt, sondern in Polen. Im Jahr 2014 stand der junge Philologe vor dem stalinistischen Kulturpalast in Warschau und sagte: Wow! Es war der Start einer Entdeckungsreise, die ihn quer durch alle Baustile von Frankreich, Portugal und Lettland über Russland und zurück führte. 2017 zog er nach Kiew und legte sich fest: Die Moderne mochte er am liebsten, und er würde ihre Bauten in der Ukraine dokumentieren. Ein Jahr später startete er den Instagram-Account @ukrainianmodernism.

Heute hat er 94.000 Follower, mehr als die Hälfte davon international, und zeigt auf über 660 Postings die ganze Bandbreite des architektonischen Schaffens von den 1960er- bis in die frühen 1990er-Jahre. Ein prachtvolles Panorama tut sich auf: bunte, riesige Wandmosaike, mal abstrakt, mal mit Arbeiter-und-Bauern-Motiven. Die mondän-schwungvolle Urlaubsarchitektur der Sanatorien auf der Krim. Die Schindeldächer der regional-ländlichen Variante der Moderne in den westukrainischen Karpaten. Die rotgoldenen Kurvenschwünge der Metrostationen von Charkiw. Das popbunte Interieur des in den 1980er-Jahren renovierten Kinos der Jugend in Kiew. Die erstaunlich vielen spielerischen Details der als monotone Plattenbauten geschmähten Großsiedlungen. Die vielen Bildungsbauten wie die ikonische und inzwischen denkmalgeschützte Ufo-Schüssel des Technischen Instituts in Kiew, die Architekt Florian Juriew 1971 keck auf einem Flachdach balancierte.

Geometrische Schönheit

Soloviov ist nicht der Einzige, der die sozialistische Architektur der Nachkriegszeit zelebriert. Mehrere lokale Varianten dessen existieren in den sozialen Medien, das New Yorker MoMA widmete 2018 eine ganze Ausstellung den Beton-Utopien Jugoslawiens, das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt rief 2017 "SOS Brutalismus", und das Architekturzentrum Wien feierte bereits 2012 in einer seiner meistbesuchten Ausstellungen die Sowjetmoderne. Die AzW-Online-Datenbank wurde für Soloviov eine wichtige Recherchegrundlage – ein Kulturtransfer retour über Bande.

Was fasziniert den 1990 Geborenen ausgerechnet an dieser Ära, die er selbst nur aus Erzählungen kennt? "Es ist schwieriger, mit reiner Geometrie Schönheit zu erzeugen anstatt mit exzessiven Ornamenten, daher bewundere ich die Leistung jener Architekten um so mehr", sagt er. Seine Botschaft: Die Bauten des Sozialismus stammten nicht von anonymen Kollektiven, sondern von Individuen, die ihr Bestes gaben. Seine Methode: Anders als viele Brutalismus-affine Accounts fotografiert er seine Objekte nicht in düsterem Schwarz-Weiß, sondern lässt Farbe und Licht spielen.

Ungebrochener Enthusiasmus

Das freudige Suchen nach den Schätzen dieser Architektur und die Führungen, die Dmytro Soloviov organisiert, hätten noch lange so weitergehen können, doch dann kam der 24. Februar 2022. Auch auf Instagram wird der Bruch sichtbar: Bilder mit Rauch und Ruinen prägten @ukrainianmodernism in den ersten Monaten des Angriffskriegs. "Am Anfang wollte ich zeigen, was hier in der Ukraine passiert", erzählt Soloviov im Gespräch per Zoom. Der STANDARD erreicht ihn beim Familienbesuch in seiner Heimatstadt Saporischschja, nach einer Nacht unter Bombenalarm, die akute Erschöpfung mischt sich in seinen ungebrochenen Enthusiasmus.

Nach dem ersten Schock im Frühjahr 2022 wurden die Bilder, die er postete, zunehmend wieder bunter: "Ich wollte nicht auf Dauer zum Kriegsreporter werden, das können andere besser." Bald begann er wieder mit Führungen vor Ort, seine internationalen Follower konnten ihn auf mehrstündigen Exkursionen per Zoom begleiten. Heute fokussiert er sich wieder auf Begehungen für Einheimische. "Für viele ist das eine Art Stresstherapie. Sie können sich mit Architektur vom Alltag des Krieges ablenken, sich mit anderen treffen." Sie finden Trost im farbenfrohen Optimismus der Mosaike und Freude an futuristischen Formen.

Dramatischer Kontext

Nicht nur die Vermittlung sozialistischer Architektur geriet durch den Krieg in einen dramatischen neuen Kontext, auch die öffentliche Meinung über sie wurde erneut politisiert. "Vor dem Krieg galt es einfach als sowjetische Architektur, die durch ihre Geschichte stigmatisiert war und oft den Interessen von Investoren zum Opfer fiel", sagt Soloviov. Doch seit Kriegsbeginn sei alles noch schlimmer geworden. Jetzt gelte alles Sowjetische als russisch, und das gefährde diese Bauten noch mehr. "Dabei merken die Leute nicht, dass sie damit Putin in die Hände spielen, der Russland als legitimes Erbe der Sowjetunion propagiert. Sie vergessen, dass die moderne Architektur ein internationales Phänomen war und die meisten der Bauten von ukrainischen Architektinnen und Architekten entworfen wurden." So gerät das bauliche Zubehör des zivilen Alltags im Kalten Krieg, all die Wohnsiedlungen, Schulen, Kinos und Denkmäler, heute zwischen die Fronten eines neuen, heißen Krieges.

So erzählt die scheinbar harmlose Sammlung schön anzuschauender Fotos von 50 Jahre alter Architektur auf Instagram einiges über Gegenwart und Zukunft. Denn wie auch immer der Krieg endet, der Wiederaufbau ist bereits jetzt ein Thema, und globale Architekten wie Norman Foster kreisen schon so gönnerhaft wie geierhaft über den Ruinen und bieten ihre Dienste an. Dabei hat die Ukraine auch heute ausreichend eigene talentierte Architektinnen und Architekten.

"Ich brauche keine eingeflogenen Stars, ich will nicht, dass die Ukraine zu einem Dubai mit gesichtslosen Hochhäusern wird", sagt auch Soloviov. Vor allem will er dagegen kämpfen, dass seine Landsleute ihr eigenes Erbe zerstören. "Wenn wir alle Spuren des 20. Jahrhunderts beseitigen, was werden zukünftige Generationen denken? Dass wir in jener Zeit gar nichts getan haben?" So wird er weiter mit friedlichem Enthusiasmus dazu einladen, zu schauen, zu berühren und zu erleben und die Nuancen zu entdecken. Die nächste Tour ist schon angekündigt. Treffpunkt: Lwiw. (Maik Novotny, 19.2.2023)