Unter den vielen fragwürdigen Behauptungen, die derzeit über den Ukraine-Krieg herumschwirren, sticht eine besonders hervor: dass Kriege stets am Verhandlungstisch und nicht auf dem Schlachtfeld beendet werden. Zumindest für die letzten hundert Jahre trifft das nicht zu. Fast alle Kriege wurden militärisch entschieden. In vielen Konflikten war es der Sieg einer Seite – in beiden Weltkriegen, im Vietnamkrieg oder im zweiten Golfkrieg zur Befreiung Kuwaits vom Irak. Bei einem militärischen Patt kehrte man zur ursprünglichen Grenze zurück, so etwa im Koreakrieg oder im Krieg zwischen dem Iran und Irak.

Lehnt Verhandlungen mit Wladimir Putin ab: der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj.
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Wurden Staaten aufgeteilt, sei es friedlich wie die Tschechoslowakei oder begleitet mit Gewalt wie Jugoslawien, geschah das ebenfalls entlang bestehender politischer Linien. Kaum je wurden neue Grenzen am grünen Tisch gezogen.

Einigung auf Fokalpunkt

Dafür gibt es gute Gründe. Der US-Wirtschaftsnobelpreisträger Thomas Schelling hat in seinem Buch The Strategy of Conflict 1960 den Begriff des Fokalpunkts eingeführt, auf den sich beide Seiten auch ohne klare Kommunikation einigen können. Das kann in einem Krieg ein kleiner Fluss sein oder eine historische Grenze. Ohne das geht der Kampf um jeden Meter meist weiter.

Aber welche Linien, die als Grundlage für eine stabile Waffenruhe oder gar einen Friedensschluss dienen könnten, bieten sich im Ukraine-Krieg an? Eine wäre die entlang der vier ukrainischen Provinzen, die Russland im September 2022 annektiert hat, aber nur zum Teil kontrolliert. Eine Einigung auf diese Grenze würde die Ukraine zwar als Staat erhalten, aber stark geschwächt, und sie wäre ein Triumph für Wladimir Putin. Dafür müsste seine Armee jedoch noch große Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen. Und diese sind nicht in Sicht.

Territoriale Kompromisse

Eine zweite Option wäre der Frontverlauf vor dem 24. Februar 2022. Dafür müsste die ukrainische Armee die russischen Truppen aus allen seither besetzten Gebieten vertreiben und nur auf die Krim und den östlichen Donbass mit den beiden Großstädten Donezk und Luhansk verzichten. Für Putin wäre es eine Blamage, für Wolodymyr Selenskyj ein halber Sieg. Doch dieser Ausgang setzt einen wahren Kollaps der russischen Armee voraus. Was würde die Ukraine in diesem Fall daran hindern, den Krieg mithilfe westlicher Waffen weiterzuführen, um auch die 2014 besetzten Gebiete zu befreien?

Allein aus solchen realistischen Gründen ist ein Ende des Krieges nur entlang der völkerrechtlich legitimen Grenzen vorstellbar – also wenn die Ukraine ihr Kriegsziel erreicht und ihr gesamtes Staatsgebiet befreit, einschließlich der Krim, auf die Russland ebenfalls kein Anrecht hat. All jene, die nun territoriale Kompromisse fordern, sollten sich bewusst sein, dass seit dem Abschluss der Entkolonialisierung in den 1960er-Jahren an Grenzen kaum noch gerüttelt wurde. International anerkannte Grenzen besitzen heute eine normative Kraft, die politisch mehr wiegt als militärische Fakten. Das Zeitalter der Grenzziehung durch Armeen ist vorbei.

Leeres Gerede

Deshalb ist der Ruf nach Verhandlungen letztlich ein leeres Gerede. Und deshalb wird dieser furchtbare Krieg noch lange weitergehen – nicht weil die Ukrainer so störrisch sind und ihre westlichen Verbündeten kriegsgeil, sondern weil eine Großmachtpolitik aus der Vergangenheit im 21. Jahrhundert nie zu einem stabilen Frieden führen kann. (Eric Frey, 22.2.2023)