In seinem Gastkommentar kritisiert Christos Katsioulis, dass die EU im Schlepptau Washingtons hängt und sich so alte Rollenbilder aus dem Kalten Krieg weiter verfestigen.

Die USA bleiben eine Führungsmacht, auch bei einem europäischen Territorialkonflikt. Im Bild US-Präsident Joe Biden und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Foto: Reuters / Evelyn Hockstein

"Dies ist die Stunde Europas, nicht die Stunde Amerikas" – dieser Satz fiel nicht zum Anlass des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Er ist schon deutlich älter und stammt aus der Anfangszeit der Zerfallskriege des ehemaligen Jugoslawiens. Der damalige luxemburgische Außenminister Jacques Poos formulierte so früh bereits den Anspruch der Europäischen Union (damals noch Gemeinschaft), Krisen in der eigenen Nachbarschaft selbst regeln zu können.

Dieser Anspruch war ebenso wenig mit Handlungen unterlegt, wie er das heute im Krieg Russlands gegen die Ukraine ist. Die EU hat sich zwar mit erstaunlicher Einmütigkeit auf eine Reihe von Sanktionspaketen gegen Russland geeinigt und unterstützt das Land finanziell und mit Waffenlieferungen. Aber die Führung und das Gros dieser Unterstützungsleistungen erfolgt aus den USA oder der Nato.

Ein Weltbild wie im Kalten Krieg

Der russische Angriff hat die Angst vor Krieg und Konflikten und auch die Sorge vor einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen zurückgebracht. Viele Menschen haben noch ein Weltbild, das stark an den Kalten Krieg erinnert: Russland und China auf der einen Seite und die USA und ihre europäischen Verbündeten auf der anderen.

Mit dieser Wahrnehmung verfestigt sich eine Rollenteilung aufseiten des Westens, wie sie in diesem Konflikt in neuer Schonungslosigkeit erkennbar ist. Die USA sind wieder einmal Führungsmacht bei der Bearbeitung eines europäischen Territorialkonflikts, und die EU hängt im Schlepptau Washingtons. Die Unterstützung der ukrainischen Verteidigung zeigt dies exemplarisch. Die USA liefern deutlich mehr als alle anderen Verbündeten, gleichzeitig koordinieren sie deren Unterstützung für die Ukraine im Rahmen des Ramstein-Formats, womit sogar der namensgebende Ort für die regelmäßigen Zusammenkünfte zur Absprache neuer Waffenpakete eine US-amerikanische Militärbasis ist.

Fehlende Mittel, fehlender Wille

Der Krieg hat erbarmungslos Schwachstellen der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der EU offengelegt. Dazu zählen einerseits die fehlenden militärischen Mittel der EU, andererseits – und noch viel gravierender – der fehlende politische Wille der Mitgliedsstaaten der EU, sich auf gemeinsame Ziele zu einigen.

Wer nun hofft, dass der Schock des russischen Angriffs dazu führen wird, dass die fehlende Handlungsfähigkeit der EU tatkräftig angegangen wird, sieht zwar ein paar Lichtblicke, aber das Gesamtbild bleibt düster. Auf der positiven Seite finden sich die Entscheidungen vieler EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Österreich, die eigene Landesverteidigung zu stärken und mehr in die Verteidigungsfähigkeit der eigenen Streitkräfte zu investieren. Zudem hat sich die Wahrnehmung Russlands sowohl politisch als auch in der europäischen Öffentlichkeit angenähert. Die Unterstützung der Ukraine erfolgt weitgehend in Einigkeit und hat dazu geführt, dass dem Land eine Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft eröffnet wurde. Und nicht zuletzt ist die schon lange schwelende Frage der Unabhängigkeit der EU von der Nato ad acta gelegt worden. Die drohende Konkurrenz zwischen den beiden Organisationen ist der Erkenntnis gewichen, dass beide nötig sind und die Synergien gestärkt werden müssen. Sicherheitspolitisch bedeutet das eine Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato.

Strategische Fehler

Dennoch ist die Hoffnung auf eine bald handlungsfähige EU auf tönernen Füßen gebaut. Warum?

Erstens, die massiven Investitionen in militärische Ertüchtigung führen nicht automatisch zu einer Verbesserung der Interoperabilität zwischen europäischen Streitkräften oder gar einer Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie. Allein die Tatsache, dass Polen künftig auf US-amerikanische und südkoreanische Panzer setzen wird, zeigt exemplarisch, dass sich bestehende Diskrepanzen nicht aufheben, sondern nachgerade verstärken.

Zweitens ist erkennbar, dass der momentan historisch günstige Moment der Biden-Administration nicht zum Anlass genommen wird, die eigenen Entscheidungsfähigkeit zu stärken. Dies könnte sich dann perspektivisch als strategischer Fehler erweisen, wenn Joe Biden zu den letzten US-Präsidenten zählt, die in hohem Maße auf Kooperation mit und Einbindung von europäischen Alliierten setzen. Die Erinnerung an die Amtszeit von Donald Trump sollte hier als Mahnung dafür dienen, der wohlwollenden Führung der USA nicht auf ewig zu vertrauen.

"Der innereuropäische Konflikt ist nicht Geschichte."

Drittens hat die Annäherung der Wahrnehmung Russlands nicht dazu geführt, eine einheitliche Strategie der EU zu entwickeln. Stattdessen werden mit zunehmender Dauer des Krieges die Differenzen sichtbar, die bislang vom Bemühen um die Unterstützung der Ukraine überdeckt werden. Der innereuropäische Konflikt ist nicht Geschichte, sondern hat sich transformiert in eine deutlich konkretere Ungewissheit, die jedoch kaum diskutiert wird. Dabei geht es um die Frage des Ziels der Unterstützung für die Ukraine und somit auch darum, welche Kriegsziele der ukrainischen Regierung von ihren europäischen Verbündeten mitgetragen werden.

Hier gibt es unterschiedliche Szenarien, von einer Rückkehr zum Status quo ante des Krieges, also den Trennlinien vom 23. Februar 2022, über eine ukrainische Rückeroberung des Donbass oder sogar der Krim bis zu einer Niederlage Russlands, verbunden mit der Pflicht, Reparationsleistungen an die Ukraine zu bezahlen. Damit verknüpft sind unterschiedliche Einschätzungen der Eskalationsgefahr, die von diesem Krieg ausgeht. Diese europäische Uneinigkeit war erkennbar an den intensiven Diskussionen rund um die Lieferung der unterschiedlichen Waffensysteme, wie sie jüngst am Beispiel der Kampfpanzer wieder stattgefunden haben. Der bisherige Verlauf des Krieges lässt vermuten, dass auch die Definition dieser Ziele unter US-amerikanischer Führung stattfinden wird.

Eine verpasste Chance

Viertens dürfte sich die heute noch so lautstark betonte europäische Perspektive der Ukraine als Luftschloss herausbilden. Denn vor einem Beitritt müssten die Strukturen und Entscheidungsprozesse der EU reformiert werden, wofür aktuell kein Momentum erkennbar ist. Zudem könnte sich die Unterstützung des ukrainischen Beitritts in einigen Ländern als brüchig erweisen, sobald der Krieg in seiner Intensität nachlässt.

Damit wird deutlich, dass möglicherweise auch diese Stunde Europas verstreichen wird, ohne dass substanzielle Fortschritte in Richtung einer unabhängig handlungsfähigen Union erwachsen – ein politischer Fehler und eine verpasste Chance. Vielleicht nutzen wir stattdessen zumindest die derzeit noch bestehende Chance, diesen Krieg zur gemeinsamen Stunde Europas und Amerikas zu machen – es könnte die letzte sein. (Christos Katsioulis, 27.2.2023)