Janine Heinz, Sozialwissenschafterin am Sozialforschungsinstitut Sora, und Neos-Lab-Direktor Lukas Sustala fragen sich in ihrem Gastkommentar, wie es die Politik schaffen kann, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Der Bundeskanzler hat eine Rede zur Zukunft der Nation gehalten. Kaum ein Thema wurde in dieser Rede nicht angerissen. Doch dadurch fehlt es an der Klarheit in einer entscheidenden Frage. Denn ein stärkerer Fokus auf die Demokratie und ihre Resilienz hätte sehr gut getan. Nach mehreren Krisen – Pandemie, Krieg, Energiesorgen, Inflation, Korruption – ist das Vertrauen in die Politik derart schwer erschüttert, dass es mit dem Drehen an kleinen Schrauben nicht getan ist. Das Freiheitsgefühl der Menschen in Österreich hat sich trotz des gesundheitlichen Auslaufens der Coronavirus-Pandemie noch immer nicht erholt. Es stagniert auf einem Tiefpunkt, wie der Freiheitsindex von Sora im Auftrag des Neos Lab auch für 2022 zeigt – für den insgesamt 2164 Menschen telefonisch und online zwischen 7. September 2022 und 21. Oktober 2022 befragt wurden.

Kanzler Karl Nehammer und seine "Rede zur Zukunft der Nation". Die Reaktionen danach? Viel Verärgerung, aber auch Verwunderung.
Foto: Heribert Corn

Dass die Pandemie eine Zumutung für uns alle war, ist zweifellos richtig. Dass aber die Akzeptanz von Maßnahmen wie den Ausgangsbeschränkungen auch unter jenen stark zurückging, die Corona ernst nahmen, offenbart ein tieferliegendes Problem. Denn die Infektionssorgen waren 2020 und 2021 relativ stabil, das Vertrauen in die wissenschaftliche Grundlage der Corona-Maßnahmen schwand – auch unter jenen, die die Maßnahmen ernst nahmen.

Schwindendes Vertrauen

Woran lag und liegt es also, dass das Vertrauen in Österreich so stark erschüttert wurde, auch im internationalen Vergleich? Warum braucht es eine Aufarbeitung und Reformen? Zum einen, weil die wissenschaftlichen Grundlagen der Maßnahmen nicht mehr erkenntlich waren. Die Gesundheitskrise hat offengelegt, dass es eine neue Wissenschaftskommunikation braucht, eine Stärkung des Stellenwerts von Wissenschaft und Evidenz im Diskurs. Ein weiteres Element der Gesundheitskrise wird im Freiheitsindex für die Pandemiefolgen sichtbar: Für vier von zehn hat sich die psychische Gesundheit verschlechtert, vor allem junge Menschen unter 29 sind davon betroffen. 2020 war das untere ökonomische Drittel akut davon betroffen, im zweiten Pandemiejahr 2021 schwand dann auch die Resilienz in der Mitte, die sich seitdem nicht erholt hat. 2022 trat die Teuerung hinzu und belastet sowohl jene in einer prekären finanziellen Situation als auch die Mitte der Gesellschaft.

Demokratische Spielregeln

Zum anderen ist das Vertrauen in die Politik durch Korruptionsskandale gesunken. Das politische System hat dadurch massiv an Vertrauen eingebüßt, während die Demokratie als System aber nicht in Zweifel gezogen wurde. Denn die durchwegs gute Nachricht war, dass eine große Mehrheit (2020: 84 Prozent laut Freiheitsindex) auf die Einhaltung demokratischer Spielregeln bei der Bekämpfung der Pandemie gepocht hat. Das Problem: Mit der Fortdauer der Pandemie sahen aber nur mehr vier von zehn ihre eigenen Lebensumstände in den Maßnahmen repräsentiert. Die Regierung hat also mit den auf dem Papier höchsten Subventionen und meisten Maßnahmen an der Lebensrealität der Menschen vorbei gewirkt. Dazu hat sicherlich auch die Kommunikationsstrategie in Österreich beigetragen.

Wenn nun der Bundeskanzler angesichts eines rekordhohen Misstrauens in das politische System eine Zukunftsvision präsentiert, dann müsste diese auch eine Vision vom politischen System liefern: Wie kann es die Politik schaffen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, ohne die Gesellschaft zu spalten? Und damit genau jene Zuversicht in die Zukunft zu unterstützen, die dem Bundeskanzler offenbar abgeht.

"Die Energie- und Teuerungskrise ist in keinem Land leicht zu bewältigen, aber in Österreich traf sie uns in einer Zeit, in der das Vertrauen bereits tief erschüttert war."

Es gibt große Stellschrauben, an denen gedreht werden sollte. Das politische System zu reformieren, erfordert eine Transparenz- und Informationsoffensive sowie eine Stärkung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien. Inszenierte Neiddebatten, die eine Kürzung von Sozialleistungen in Aussicht stellen, gehören nicht dazu. Sie lenken die Aufmerksamkeit weg von einem zentralen Problem in Österreich: dem Eindruck, in der Politik würde sich eine Elite untereinander ausmachen, was im Land passieren soll. Dieser hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen und dämpft das Freiheitsgefühl der Menschen in Österreich. Diese Wahrnehmung einer Elitenpolitik schwächt auch die Resilienz des Staates, weil Maßnahmen, ob in der Coronavirus-Pandemie oder angesichts der Teuerung, weniger glaubwürdig werden. Das ist in Hinblick auf die Teuerung und Zukunftsängste einer der Gründe, weshalb trotz vieler Förderungen keine Entlastung wahrgenommen wird.

Politisches Kapital

Das macht es aber doppelt teuer. Fehlt das politische Kapital, dann muss oft die Verteilung von Steuergeld herhalten. Die Energie- und Teuerungskrise ist in keinem Land leicht zu bewältigen, aber in Österreich traf sie uns in einer Zeit, in der das Vertrauen bereits tief erschüttert war. Das Vertrauen zurückzugewinnen und die Pandemiefolgen für die finanzielle Situation und die psychosoziale Gesundheit zu bekämpfen sind notwendige Voraussetzungen für neue Zukunftsperspektiven. Dass diese dringend notwendig sind, sollte angesichts der Klimakrise, die strukturelle Maßnahmen statt individueller Handlungsanweisungen erfordert, offenkundig sein. (Janine Heinz, Lukas Sustala, 15.3.2023)