Allein der Gedanke, dass ein geliebter Mensch irgendwann nicht mehr da ist, überfordert viele.
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Der Lebensabschnitt, wenn der Tod leise anklopft, ist und bleibt ein Tabuthema, das vielen Angst macht. In Vorarlberg soll sich das ändern, indem bereits junge Menschen sich mit der finalen Phase des Lebens auseinandersetzen. Vor einem Jahr startete das Pilotprojekt "Palliative Care Goes School". Wissenschaftlich begleitet von der FH Vorarlberg, besuchte das Team der Palliativstation Hohenems 26 Klassen und sprach mit ihnen über seine Erfahrungen mit Palliativpatientinnen und -patienten. Nun soll der Workshop fester Bestandteil an allen höheren Schulen werden.

Schon früher besuchten Schulklassen regelmäßig die Palliativstation im Landeskrankenhaus Hohenems. Dann kam die Pandemie. Wenig später folgte die Legalisierung des assistierten Suizids in Österreich. Für Oberarzt Otto Gehmacher war das der Anlass, um das einzigartige Projekt ins Leben zu rufen. "Da die Schüler und Schülerinnen nicht mehr zu uns kommen konnten, beschlossen wir, an die Schulen zu gehen", erinnert sich Gehmacher. Zusammen mit Pflegeleiterin Andrea Moosbrugger entwickelte er einen Workshop, der im Jänner 2022 startete.

Auseinandersetzung mit dem Tod

"Wir wollen mit dem Projekt einen gesellschaftlichen Diskurs ermöglichen, der auch und gerade mit jungen Menschen stattfinden muss", sagt Andrea Kuckert-Wöstheinrich von der FH Vorarlberg. Häufig negativ konnotiert, mit Angst, Trauer und Schwere verbunden, werden Themen wie Sterben und Tod gerade vom Leben der Jugendlichen ferngehalten, ergänzt Gehmacher. Die Workshops würden darauf abzielen, schon früh aufzuklären und Ängste zu nehmen: Angst, eine Palliativstation zu betreten, Angst, mit Sterben konfrontiert zu sein, Angst vor unpassendem Verhalten, Angst vor Emotionen, die überwältigend sein könnten. "Wir wollen zeigen, dass Palliative Care auch voller Leben ist – und Humor", erklärt der Mediziner. Zwei Drittel der Patienten und Patientinnen werden zudem von der Palliativstation wieder entlassen.

Ein Vorarlberger Schulprojekt will das Thema palliative Pflege enttabuisieren.
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Palliative Care oder Palliativpflege zielt darauf ab, Maßnahmen zu ergreifen, um die Lebensqualität von Patienten und deren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert sind, zu verbessern. Dazu gehören die Linderung von Schmerzen, die Therapie von Atemnot und die frühe Begleitung bei schwerem Leiden – auf körperlicher, psychosozialer und spiritueller Ebene.

Zunehmende Ängste

"Auf der Station sehen wir oft, dass vor allem Eltern mit ihren Gefühlen schwer umgehen können und versuchen, ihre Kinder zu schützen", erklärt Gehmacher. Dabei pflegen Kinder meist einen ganz natürlichen Umgang, lenken sich ab und haben Spaß in der Spielecke der Station. Erst mit dem Alter nehmen auch die Ängste zu. "Idealerweise säen wir durch die Workshops palliative Samenkörner, die vielleicht irgendwann im Leben sprießen werden", so Gehmacher. Denn auch wenn das Sterben in der Gesellschaft immer mehr verdrängt wird, etwa durch die Verschiebung des Sterbeorts aus dem privaten Bereich in Krankenhäuser und Pflegeheime, bewahrt das niemanden davor, sich irgendwann dennoch damit auseinandersetzen zu müssen.

Als der erste Tag an der Schule bevorsteht, macht sich im Team Aufregung breit. Der Workshop soll interaktiv sein, die Jugendlichen sollen stark eingebunden werden. Fallbeispiele machen die Thematik noch angreifbarer, ebenso wie Geräte aus der Palliativstation und ein Quiz am Ende. "Schulerfahrung brachte allerdings niemand mit, deshalb erlebten wir jedes Mal einen Nervenkitzel, wie die Klasse reagieren würde", erinnert sich Moosbrugger. Insgesamt drei Medizinerinnen und Mediziner sowie fünf Pflegepersonen sind involviert. Wissenschaftlich begleitet werden sie von Forschenden der FH Vorarlberg, die vor und nach dem Workshop ausgefüllte Fragebögen der Jugendlichen auswerten und eine qualitative Analyse der Interaktionen während einiger Workshops durchführen.

Tiefgründige Fragen

"Was mich sehr beeindruckt hat, war, wie reflektiert die Jugendlichen waren und wie tiefgründig ihre Fragen – etwa, was wir glauben, wie es nach dem Tod weitergeht", sagt Moosbrugger. Berührungsängste habe es überraschend wenig gegeben. Die Fragen reichten von Medizin und Spiritualität bis hin zu den Gehältern des Teams. Sogar die obligatorisch gelangweilt wirkenden letzten Reihen überraschten bei den Quizzen damit, wie viel sie von den Inhalten reproduzieren konnten.

Palliative Pflege kann die Lebensqualität von kranken Menschen stark verbessern.
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Nach fünf Monaten und insgesamt 26 Klassen, zehn davon begleitet von der FH Vorarlberg, werteten die Forschenden die Fragebögen von insgesamt 460 Schülerinnen und Schülern aus. 85 Prozent der Jugendlichen gaben an, dass sie durch den Workshop viel Neues gelernt hätten. Eine zuvor hauptsächlich negative Assoziation von Palliativpflege verschob sich deutlich ins Positive.

Und die Jugendlichen betonten, wie wichtig es für sie ist, über Angebote Bescheid zu wissen, falls in der eigenen Familie jemand erkrankt. Schließlich hatten zum Zeitpunkt der Erhebung bereits fast zwei Drittel Todes- oder Krankheitsfälle in der Familie miterlebt. Kaum etwas verändert habe sich bei der Einstellung zur Sterbehilfe. "Die Mehrheit der Jugendlichen spricht sich für eine Liberalisierung aus, obwohl sie sehen, dass dadurch der Druck auf ältere Menschen steigen kann", erklärt Gehmacher.

Positiver Zugang für Jugendliche

"Erste Ergebnisse zeigen deutlich, dass ein Workshop wie dieser dazu beitragen kann, dass Jugendliche wissen, was Palliative Care ist, und die Thematik außerdem positiver assoziieren", erklärt Forschungsleiterin Kuckert-Wöstheinrich. Nach der Pilotphase startet deshalb nun ein dauerhaftes Projekt in ganz Vorarlberg. Ab sofort wird der Workshop jedes Jahr in allen siebenten beziehungsweise achten Klassen stattfinden. Derzeit noch von einem Förderverein finanziert, hat das Land Vorarlberg ab kommendem Schuljahr die Regelfinanzierung zugesagt.

Doch nicht nur für die Jugendlichen, auch für das Palliativteam war das Projekt eine Bereicherung. "Es war sehr spannend, so viel über die Einstellungen und Sichtweisen der Schülerinnen und Schüler zu erfahren, sodass wir das Gefühl hatten, selbst Lernende zu sein. Zum anderen war es auch aufschlussreich, mitzuerleben, wie sehr neben den Gesundheitsberufen auch die Schulen durch die Pandemie belastet waren", sagt Gehmacher.

Personell scheint die Ausweitung des Projekts keine große Herausforderung. Mittlerweile haben sich bereits acht Personen des Hohenemser Pflegeteams gemeldet, die Teil des Projekts werden möchten. "Es ist ein wichtiger Beitrag für unsere Gesellschaft, schließlich kann der Thematik Sterben und Tod niemand entgehen", sagt Moosbrugger. (Anja Böck, 1.5.2023)