Cambridge-Professorin Diane Coyle schreibt in ihrem Gastkommentar über die Verheißungen und Gefahren der generativen KI.

Seit OpenAI letztes Jahr seinen Chatbot ChatGPT herausgebracht hat, prognostizieren immer mehr Analysten, dass die generative künstliche Intelligenz Millionen von Arbeitsplätzen vernichten und weitreichende wirtschaftliche Turbulenzen auslösen wird. Doch wie genau wird die generative KI die Weltwirtschaft beeinflussen?

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Jüngste Schätzungen bieten Anhaltspunkte für die auf dem Arbeitsmarkt drohenden Verwerfungen. So erwarten Wirtschaftsforschende von Goldman Sachs, dass infolge der jüngsten Durchbrüche bei der KI bis zu 300 Millionen Vollzeitarbeitsplätze automatisiert werden könnten und zwei Drittel der Arbeitnehmer in Europa und den USA einer KI-gestützten Automatisierung ausgesetzt sein könnten. Ein Arbeitspapier von Forschenden bei OpenAI kommt zu dem Schluss, dass rund 80 Prozent der US-Erwerbsbevölkerung von der Einführung sogenannter Large Language Models wie ChatGPT betroffen sein könnten. Und einige Anwaltskanzleien und Marketingunternehmen haben bereits begonnen, generative KI-Tools einzusetzen.

Entlasten oder ersetzen?

Doch bleibt unklar, ob die neuen KI-Systeme die Produktivität bestehender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steigern werden, indem sie sie von Routinetätigkeiten entlasten, oder ob sie diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer technologisch unnötig machen werden. Natürlich wären viele Büroangestellte hocherfreut, wenn KI-Tools ihnen langweilige Arbeiten wie das Protokollführen bei Sitzungen, die Beantwortung von Routinefragen oder die Spesenabrechnung abnehmen würden. Doch glauben viele, dass das aktuelle Wettrüsten bei der generativen KI darauf zielt, die Kosten zu senken, indem man Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Algorithmen ersetzt, statt die Leistungsfähigkeit dieser Technologien zur Unterstützung menschlicher Arbeit zu nutzen.

Möglich ist freilich auch, dass die meisten Unternehmen diese leistungsstarke Technologie nur langsam einführen werden, weil es ihnen an Fertigkeiten und Fachwissen fehlt. Auch das ist nicht gerade beruhigend. Neue Technologien lösen oft Verwerfungen bei Lebensgrundlagen und Branchen aus, doch können sie zugleich die zur Steigerung von Einkommen und LebensStandards erforderlichen Produktivitätszuwächse hervorbringen. Nach fast zwei Jahrzehnten extrem langsamen Produktivitätswachstums in den meisten hochentwickelten Volkswirtschaften ist die generative KI just zur rechten Zeit auf den Plan getreten. Aber damit sie den Menschen auf breiter Basis zugutekommt, müssen wir die Lehren der letzten Welle digitaler Innovationen beherzigen.

Innovationen wie das Smartphone und Kommunikationstechnologien wie 4G und 5G haben in den letzten 20 Jahren unseren Alltag revolutioniert und zur Entstehung neuer Branchen und Geschäftsmodelle geführt. Die Cloud-Computing- und E-Commerce-Branchen sind rapide gewachsen, was einen Arbeitsmarkt widerspiegelt, in dem digitale Fertigkeiten zunehmend eine Grundvoraussetzung sind, um einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu finden. Doch trotz dieser technologischen Fortschritte war die Produktivitätszunahme seit Mitte der 2000er-Jahre trostlos.

Faktor Zeit

Wie ist dieses wirtschaftswissenschaftliche Rätsel zu erklären? Während es sein kann, dass digitale Technologien schlicht nicht sonderlich produktiv sind, legt ihre weitverbreitete Übernahme das Gegenteil nahe. Plausibler ist, dass es Zeit braucht, um herauszufinden, wie man neue Technologien am sinnvollsten nutzt. Infolgedessen war bisher nur eine kleine Minderheit der Unternehmen in den USA und im Vereinigten Königreich in der Lage, durch Einsatz digitaler Tools ihre Produktivität zu steigern und der Konkurrenz davonzuziehen.

Angesichts der enormen und teuren Rechenleistung, die erforderlich ist, um generative KI-Tools zu nutzen und zu warten, scheint es unvermeidlich, dass es mit dieser neuen Technologie einen ähnlichen Verlauf nehmen wird. Wenn eine Handvoll dominanter Unternehmen Deep-Learning-Algorithmen wie OpenAIs GPT-4 zur Entwicklung neuer Dienstleistungen und Produkte nutzen, könnten sie ihre Marktmacht steigern und unüberwindliche Markteinstiegsbarrieren errichten.

Doch reicht das wahre Potenzial dieser neuen Technologien deutlich über ihre Fähigkeit hinaus, ein paar wenigen Unternehmen Effizienzsteigerungen oder die Entwicklung neuer Produkte zu ermöglichen. Um weitreichende Produktivitätssteigerungen zu erreichen und echten Nutzen zu bringen, müssen generative KI-Modelle die Art und Weise ändern, wie wir Dinge produzieren. Schließlich resultierten die nachhaltigsten Produktivitätssteigerungen der letzten 200 Jahre aus der Umgestaltung und Neuverdrahtung unserer Wirtschaftssysteme durch neue Technologien.

Nicht nur Platzhirsche

Man denke an die Art und Weise, wie die Einführung austauschbarer Teile im 19. Jahrhundert das Fertigungswesen revolutionierte, oder wie Henry Fords Fließband Anfang des 20. Jahrhunderts die Arbeitsteilung innerhalb der Fabrik ausweitete. In den 1980er-Jahren verringerte die Just-in-time-Revolution die Notwendigkeit, große Lagerbestände vorzuhalten, und die Globalisierung der Lieferketten in den 2000er-Jahren ermöglichte eine stärkere Spezialisierung. Diese durch Aufkommen neuer Energie- und Kommunikationstechnologien ermöglichten Prozessinnovationen verstärkten das Wirtschaftswachstum, indem sie nicht nur veränderten, was die Unternehmen produzierten, sondern auch, wie sie produzierten.

Bevor der langfristige Nutzen der generativen KI sichtbar werden kann, müssen zunächst Hype und Panik nachlassen. Welche Mängel sie auch haben mag: Ihre Einführung stellt eindeutig einen erstaunlichen technologischen Fortschritt dar. Damit wir alle davon profitieren, müssen wir allen Unternehmen Zugriff auf diese revolutionären Tools bieten, statt den Schlüssel zur nächsten großen Wirtschaftstransformation ein paar wenigen großen Platzhirschen auszuhändigen und zu hoffen, dass sie nicht alle übrigen aussperren (Diane Coyle,Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 18.4.2023)