Der Kettenraucher Stuckrad-Barre während der Präsentation von "Noch wach?".

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Der ehemalige 'Bild' – Chefredakteur Julian Reichelt.

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Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender bei Axel Springer.

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Rose sei "irgendwie ein bisschen ANSTRENGEND geworden", sagt neuerdings jeder im Chateau Marmont. Man kennt das Luxushotel in Los Angeles schon aus Benjamin von Stuckrad-Barres fabelhaftem Suchtbuch "Panikherz", wieder einmal lebt der Erzähler des 48-jährigen Autors dort vor sich hin, solange "die unangenehme Realitätswindböe "Geld weg" ihn verschont. Wenn hier ein Gast von einem anderen mit einem "Hi" gegrüßt wird, grüßt er zurück, und das nennt der Erzähler "Pool-Sozialismus".

Nur Rose reagiert nicht auf ihn und auch sonst auf niemanden, sondern liest am Pool liegend ein "dickes, fordernd aussehendes" Buch: Judith Butler. Bald wird nicht mehr nur sie anstrengend sein. Denn Rose ist die Schauspielerin Rose McGowan, kurz bevor sie mit Anschuldigungen gegen den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein an die Öffentlichkeit geht und damit weltweit die MeToo-Bewegung lostritt.

Noch ist aber alles eitel Wonne, und Benjamin von Stuckrad-Barre spielt in seinem neuen Roman "Noch wach?" wieder einmal seine hypernervösen Beobachtungsqualitäten voll aus. Stuckrad-Barre ist der totale Fan der kalifornischen Oberflächlichkeit, die er genießt und trotzdem als Scheinwelt ausstellt. Das Chateau Marmont ist wie ein Kindergeburtstag. Im Sommer hat der namenlose Erzähler, der aber viel Charakter und Biografie mit dem Autor gemein hat, eine Petition gegen die neuen Polsterauflagen gestartet, die ihm nicht gefallen. Man würde hoffen, diese Szenen hörten nie auf.

Mitten da hinein kriegt er eine Handynachricht vom Besitzer eines Fernsehsenders, für den er eine Zeitlang gearbeitet hat, den er Freund nennt und der das größte Medienimperium Deutschlands regiert. Zuletzt hatten sie sich "etwas AUS DEN AUGEN VERLOREN. Aber wenn wir uns trafen, schien sich nichts geändert zu haben zwischen uns. Wie das so ist mit den wirklich guten Freunden."

Er ist mit einigen seiner mittelalten männlichen Führungskräfte, darunter dem Chefredakteur eines "Brüll-Senders", nach Kalifornien gekommen, um von San Francisco zu lernen, ein paar Start-ups zu kaufen, über den "neuen Menschen" zu lernen. Eine "amerikanische Hirnwaschung" attestiert der Erzähler ihm deshalb. Ebenso, dass der Medienmanager es "neuerdings als GESTRIG IDEOLOGISCH" empfand, sich auf ein "paar fundamentale Vernunfts- und Anstandsregeln zu einigen". Er interessiert sich nicht für das, was auf seinen Sendern läuft, entschuldigt jede Entgleisung als Einzelfall. Das wird die Freundschaft härter strapazieren als die Geschmacksbefreiung in Sachen Frisur und Kleider.

Hochgepeitschte Nervosität

Hierin liegt der Grund für den Rummel, der dem Roman in den letzten Wochen vorausgeeilt ist. Die Verlagsinformation, dass es sich bei dem Buch um eine Geschichte zu MeToo in einem deutschen Medienkonzern handeln würde, und das Wissen um das einstige Naheverhältnis des Autors Stuckrad-Barre zum Axel-Springer-Konzern sowie dessen Chef Matthias Döpfner sorgten seit Anfang April für wilde Spekulationen.

Immerhin war im Springer-Konzern vor zwei Jahren "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt wegen Vorwürfen sexuellen Fehlverhaltens gegenüber einer Ex-Mitarbeiterin geflogen, nachdem Springer-Chef Döpfner zuerst lange an ihm festgehalten hatte. Hat Stuckrad-Barre mit seinem Insiderwissen einen Schlüsselroman geschrieben? Eine Abrechnung? Eine Anklage? Die Spannung wurde noch dadurch befeuert, dass der Verlag Kiepenheuer & Witsch erklärte, es würden vor Erscheinen keine Rezensionsexemplare verschickt.

Die Ankündigung scheint gehalten zu haben. Dennoch oder deswegen überschlugen sich die Ereignisse vergangene Woche von allein: Erst berichtete der "Spiegel", dass im Springer-Konzern Klagen gegen Reichelt diskutiert würden. So könnte dieser etwa interne Dokumente mitgenommen haben, als er noch "Bild"-Chefredakteur war, und diese nun zu seinem Vorteil nutzen. Der "Spiegel" vermutete, diese Information solle Springer angesichts von Stuckrad-Barres Roman in der Affäre um Reichelt ein besseres Image verschaffen.

Die "Zeit" wiederum veröffentlichte Handynachrichten Döpfners aus den vergangenen Jahren und raunte, sie würden einen "Einblick" in dessen "Gedankenwelt" geben. Eine Nachricht lautete etwa: "Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig."

In einer anderen begrüßte Döpfner den Klimawandel ("Zivilisationsphasen der Wärme waren immer erfolgreicher als solche der Kälte") und wünschte sich eine neue Amtszeit von US-Präsident Donald Trump. "Aus dem Zusammenhang gerissene Text- und Gesprächsschnipsel" könnten "nicht als mein 'wahres Denken'" angesehen werden, verteidigte er sich daraufhin, sprach von Ironie, Übertreibung, dass er sich das "Recht" nehme, sich über manches lustig zu machen und zu polemisieren.

Dann meldete sich auch noch Julian Reichelts Anwalt zu Wort und bat die Medien "höflich", nicht über den seinem Mandanten vorgeworfenen "Machtmissbrauch" zu berichten ohne Würdigung der "Tatsachen", denn die "wesentlichen Aussagen" der "Hauptbelastungszeugin" hätten sich als "frei erfunden und damit als unwahr" erwiesen.

Endlich Klarheit?

Jetzt liegt also das Buch zum Trubel vor. Auf Twitter wurden am Mittwoch noch während der Lektüre schon eifrig Textstellen geteilt. Andere spöttelten über das reflexartige Einstimmen in die seit gut zwei Wochen von Autor und Verlag hochgepeitschte Aufgeregtheit als "unbezahltes Praktikum bei den Stuckrad-Barre-Festspielen" (Hanna Engelmeier).

Hat sich die Aufregung gelohnt? Na ja. "Noch wach?", betitelt nach einer zu später Stunde versandten Handynachricht Julian Reichelts an eine junge Mitarbeiterin, setzt sich aus zwei Strängen zusammen. Der eine, etwa die erste Hälfte des Buches einnehmende, ist eine herrliche Satire. Stuckrad-Barres Erzähler rechnet darin mit den Boulevardmedien ab, deren Populismus, aber auch der Selbstüberschätzung ihrer Chefs als Meinungsmacher.

Den gläsernen Neubau des Senders seines Freundes verspottet der Erzähler als Machtgeste, aber er zerpflückt auch die Wordings der Arbeitswelten der Zukunft zwischen "Feelgood-Managerin", Learning Lab und Silence Area.

Den Chefredakteur im Gefolge seines Freundes, mit dem der Erzähler wenig Freude hat, beschreibt der Erzähler als "Krawalldödel", einen dieser "absoluten Hammertypen, diese 24/7-Tyrannen, die funkspruchartig Befehle und Gedankenfetzen rausfeuerten, Grammatik oder Interpunktion galten als so was wie gewerkschaftsorganisiertes Schwächlingsgeplärre und wurden folglich vermieden". Wer nicht sofort auf seine SMS antwortet, kriegt ein "?" nachgeschickt: das Fragezeichen als ein "Machtinstrument", das die Empfänger zermürbt. Das alles ist großartig, weil es einem so treffend vorkommt. Es trifft auch die Medienberichte und -kommentare zur Causa.

Diese Figuren, die auf Döpfner und Reichelt anspielen, sind im Buch ganz explizit nicht Döpfner und Reichelt. Einerseits wird das betont, indem der Autor einen Hinweis voranstellt, dass der Roman zwar von realen Ereignissen "in Teilen inspiriert", jedoch "eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte" sei.

Andererseits sind der Axel-Springer-Verlag und die zugehörige "Bild"-Zeitung im Buch explizit andere, nicht von den beiden Männern geleitete Medien, die zuletzt ihrerseits einen Nacktbadeskandal zu verwalten hatten. Vielleicht ist diese Volte nur ein guter Witz, vielleicht wollten Autor und KiWi-Verlag juristisch damit auch ganz auf Nummer sicher gehen. Während dem Freund jedenfalls der durch den Nacktbadeskandal gebrochene Ex-"Bild"-Chefredakteur leidtut, denkt der Erzähler bekümmert an das Opfer dieses Mannes: Das sei "ja bestimmt nicht minder ge-, wenn nicht gar daran zerbrochen, müpfte ich auf – und kam mir dabei ziemlich bescheuert vor".

Aufseiten der Opfer

Um diese Opfer dreht sich der Strang der nächsten rund 200 Seiten. War das stark mündlich erzählte "Noch wach?" bisher intensiv, schnell, laut, mit viel bissigem Witz, gerät das Buch nun aber ins Stottern. In einer Sucht-Selbsthilfegruppe in Berlin (er fliegt ein paar Mal zwischen Berlin und L.A. hin und her) lernt der Erzähler die "Krawallsender"-Moderatorin Sophia kennen.

Der Chefredakteur hat sie einst als Studentin auf Instagram geliked und umworben, für sie war das Techtelmechtel mit ihm erst Pragmatismus ("Aber wenn ich die Nachteile, eine Frau zu sein, ja eh habe, warum dann nicht wenigstens auch die paar Vorteile mitnehmen?") und später Liebe. In ihrer TV-Sendung hat sie vor kurzem noch gegen den modernen Feminismus geätzt, der Beifall, den sie daraufhin von der falschen Seite erntete, und die Postings von Frauen aus dem Sender, die über ihre Leidensgeschichten klagen, bringen sie aber zum Umdenken. Während in Hollywood dank Rose der Weinstein-Skandal explodiert, setzt in Berlin sie sich zur Wehr. Der Erzähler wird Mitkämpfer.

Plötzlich kleinlaut

Das klingt an sich spannend. Ab dem Moment aber, wo es in dieser fiktionalen Welt an strafrechtlich relevante Ereignisse geht, von denen der Autor wohl annehmen musste, dass jeder Leser sie auch als Kommentar zu Reichelt und Döpfner (miss)deuten könnte und würde, haut Stuckrad-Barre nicht mehr rein, sondern wird kleinlaut.

Statt Fehlverhaltenshandlungen zu beschreiben, verlegt er sich aufs Mittelbare: Ereignisse werden von verschiedenen Frauenfiguren berichtet. Das mag zwar die Probleme der von Übergriffen hinter verschlossenen Türen Betroffenen illustrieren, wenn es um die Beweisbarkeit solcher Vorwürfe und mögliche Klagen geht.

Es plätschert dünner

In "Noch wach?" entwickelt sich dieses Dilemma aber weder ästhetisch produktiv noch emotional packend, sondern versumpert die Geschichte zunehmend. Die Handlung plätschert immer dünner vor sich hin, und der Text läuft sich tot, weil nichts geschieht. So technisch und schaumgebremst wie das Vorgehen des Helden wird letztlich auch der Roman. Vielleicht hatte der Autor zu viel Respekt für die MeToo-Bewegung, um damit jene Faxen zu machen, für die man ihn so liebt. Vielleicht wollte er zu ernst genommen werden?

Dass Stuckrad-Barre moralisch aufseiten der Opfer solcher Systeme steht, ist beim Lesen klar. Das Ergebnis ist zu korrekt, fast aktivistisch. Selbst wenn er doch etwas Ambivalenz zulässt – denn haben die betroffenen Frauen im System Karriere gegen Sex nicht auch wissentlich mitgespielt haben? Waren nicht alle Sextreffen wenn schon nicht angebracht, so doch einvernehmlich? –, weiß man als Leser schnell, dass dieser Chefredakteur definitiv kein Guter ist.

Zu viel Wirklichkeit

Zwischendurch geht einem der Text gehörig auf die Nerven, weil er so nah dran an der Wirklichkeit ist – oder eben an dem, was man schon über den Fall Reichelt weiß. Was ist nun erfunden, was streut Stuckrad-Barre an Insiderwissen ein?

Zwischen der Rolle eines Dokumentaristen und der des Autors geht dem Popautor, der 1998 mit dem Debüt "Soloalbum" für einen Tusch in der deutschen Literaturszene sorgte und als Gag-Autor für Harald Schmidt das schnelle Bissigsein ohne Rücksicht auf Kollateralschäden lernte, das verloren, was er am besten kann: krass individuell kommentierend auf die Welt schauen. Und dann solche Beschreibungen raushauen, wie sie ihm früh im Buch mit "Palliativsendungen, die einem gar nichts zutrauten und damit sehr viel zumuteten", "Marktführerherrenmenschen" oder der verträumt-wunderschönen "Täterschutz-Kulisse" Hollywood noch gelingen.

Dass MeToo nicht nur die deutsche, sondern auch die österreichische Medienlandschaft erfasst hat, ist an Stuckrad-Barre nicht vorbeigegangen. Wenn ein "Fummel-Opi" genannter älterer Mitarbeiter Sophie schilt, "Mit ungemachten Haaren kommst du mir nicht mehr auf den Sender, das habe ich dir immer gesagt – und dann macht’s eben statt dir heute die Melli. Punkt, aus, end of discussion", dann hat man als österreichischer Leser unweigerlich Wolfgang Fellner im Ohr.

Dem "Oe24"-Chef gehörte auch der Einstieg, wenn auch nicht in die Geschichte, so doch ins Buch, mit einem am Vorsatzblatt abgedruckten Widerruf: In jenem musste er einräumen, dass die im Mai 2021 im STANDARD von Katja Wagner gegen ihn berichteten Belästigungsvorwürfe nicht "frei erfunden" seien.

Vielleicht liegt es daran, dass das sich ästhetisch etwas langweilig in den Dienst der guten Sache stellende "Noch wach?" letztlich etwas lauwarm bleibt: Man hat das Original schon gelesen. Dem vermag es aber auf der Hälfte seiner 400 Seiten nichts mehr hinzuzufügen. (Michael Wurmitzer, 20.4.2023)