Vor 25 Jahren legt der Chemiker John Warner mit seinem Buch "Green Chemistry – Theory and Practice" den Grundstein für eine nachhaltige chemische Forschung. Um das Konzept der Nachhaltigkeit in das chemische Denken zu integrieren und als Standard zu etablieren, hält der US-Amerikaner bis heute weltweit Vorträge vor wissenschaftlichem Publikum. Ende April war er auf Einladung des Fachverbands der Chemischen Industrie Österreichs zu Gast in Wien.

In der chemischen Forschung kommt eine Vielzahl toxischer Substanzen zum Einsatz. Diese durch unbedenkliche Stoffe zu ersetzen, ist Ziel der grünen Chemie.
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STANDARD: Sie waren der Erste in Ihrer Familie, der an einer Universität studiert hat. Haben Ihre Eltern Sie von Anfang an unterstützt?

Warner: Ich bin in einem Umfeld großgeworden, das nicht verstanden hat, welche Bedeutung eine höhere Bildung hat. Für meine Eltern erschloss sich schlichtweg nicht, warum jemand so lange in der Schule bleiben will, wenn man auch so einen Job kriegen kann. Meine beiden älteren Brüder haben direkt nach dem Schulabschluss angefangen zu arbeiten. Erst als ich zugestimmt habe, dass ich neben dem Studium Vollzeit arbeite, durfte ich studieren. Das lag aber meiner Meinung nach nicht an mangelnder Unterstützung, sondern einfach an fehlendem Verständnis.

STANDARD: Zunächst waren Sie auf dem besten Weg Berufsmusiker zu werden. Wann haben Sie Ihre Leidenschaft für die Chemie entdeckt?

Warner: Richtig, meine Band hatte sogar schon einen Plattenvertrag und es lief richtig gut. Dann starb unser Schlagzeuger an Leukämie. Kurz nachdem mein Freund verstorben war, fragte ein Professor, ob jemand Interesse an einer naturwissenschaftlichen Forschungsarbeit hat. Chemie war zu dieser Zeit nur ein Wahlfach für mich. Ich dachte vorher immer, es gäbe zwei Arten von Menschen: Künstler und Wissenschaftler. Und weil ich einigermaßen gut in Musik war, sah ich mich als Künstler. Erst im Labor wurde mir klar, dass es in der Chemie viel um die Erfindung von Kreativität geht. So erkannte ich, dass ich mein kreatives Selbst auch als Chemiker ausdrücken konnte, was mir bis heute sehr gefällt.

STANDARD: Was haben Musik und Chemie in Ihren Augen gemeinsam?

Warner: Wissenschaft und Musik haben mehr gemeinsam, als man denkt. Musik spielt ständig mit der Psychologie von Spannung und Entspannung. Dasselbe gilt für die Chemie. Moleküle reagieren nicht einfach so. Oft muss erst Spannung erzeugt und Energie aufgewendet werden, genau wie bei guter Musik. Ich bezeichne mich deshalb auch gerne als molekularer Choreograph.

STANDARD: Gemeinsam mit ihrem Kollegen Paul Anastas gelten Sie als Begründer der grünen Chemie. Welches Ziel verfolgt dieser Ansatz?

Warner: Die grüne Chemie konzentriert sich auf die Entwicklung von Produkten und Prozessen, die die Erzeugung und Verwendung von toxischen Stoffen minimiert oder – im Idealfall – sogar vermeidet. Das übergeordnete Ziel ist also eine ressourceneffizientere sowie sicherere Gestaltung von Molekülen, Materialien und chemischen Prozessen.

STANDARD: Nach Ihrer Promotion haben Sie über zehn Jahre in der Industrie gearbeitet. Warum hat es Sie zurück in die Forschung verschlagen?

Warner: Mein zweijähriger Sohn ist damals an einer Krankheit gestorben, deren Ursache niemand kannte. In der Nacht nach der Beerdigung lag ich lange wach. Ich fragte mich, ob etwas, das ich im Labor angefasst habe, den Tod meines Kindes verursacht haben könnte. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass mir während meiner Ausbildung ein falscher Umgang mit Toxizität beigebracht wurde. Noch heute heißt es häufig: Umwelt ist gut, Industrie schlecht. Doch damit macht man es sich zu einfach. Ich erkannte, dass der falsche Umgang mit toxischen Stoffen nicht ein Problem der Industrie ist, sondern in erster Linie ein Problem der Chemie. Denn schon bei der Entwicklung von chemischen Prozessen muss auf eine geringe Toxizität geachtet werden – schließlich sind diese Prozesse später die Basis für industrielle Verfahren. Deshalb verließ ich die Industrie und gründete stattdessen das weltweit erste Institut für grüne Chemie in Masachusetts. Dort etablierte ich das erste PhD-Programm für grüne Chemie. Bis heute veranstalte ich Workshops für Wissenschafterinnen und Wissenschafter, um sie in Sachen Toxizität zu sensibilisieren und zu schulen.

Vor 25 erschien John Warners Buch "Green Chemistry – Theory and Practice" und gab den Anstoß für die Entwicklung nachhaltiger, chemischer Forschung.
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STANDARD: Warum sind diese Workshops so wichtig?

Warner: Ich vergleiche das gerne mit der Schulbildung von Kindern: Meine zehnjährige Tochter, Nathalie, spricht perfektes Englisch und kann sich für ihr Alter wunderbar ausdrücken. Trotzdem besucht sie aktuell einen Englischkurs. Dort lernt sie von Nomen, Verben, Adjektive und Adverbien, obwohl sie diese – ohne es zu wissen – schon seit Jahren benutzt. Es ist jedoch wichtig, dass sie auch die Struktur der Sprache kennt. So kann sie ihre Gedanken in Zukunft treffend formulieren. Die chemische Forschung steht heute in Bezug auf Sicherheit an einem ähnlichen Punkt wie meine zehnjährige Tochter. Kein Wissenschafter will im Labor sterben. Kein Unternehmen will ein Produkt produzieren, das die Leute krank macht. Aber niemand weiß so wirklich, wie das geht. Für angehende Chemikerinnen und Chemiker gibt es an Universitäten keine entsprechende Lehre. Das möchte ich mit meinen Workshops ändern. Wir brauchen einen Chemieunterricht, in dem die nötigen Tools gelehrt werden.

STANDARD: Wie hat die Industrie auf Ihre Ideen reagiert?

Warner: Anders als viele vermuten, haben die meisten Konzerne die Vorteile meines Ansatzes sofort erkannt und meine Vorschläge positiv aufgenommen. Man darf nicht vergessen, dass Firmen mit hohen Zusatzkosten rechnen müssen, sobald ein toxischer Stoff im Spiel ist: Handschuhe und Masken für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, regelmäßige Schulungen und eine aufwendige Entsorgung der Abfälle. Wenn ich grüne Chemie einsetze, habe ich nicht nur ein besseres Produkt, sondern spare auch Geld – das punktet in der Industrie. Eins gilt jedoch auch für Produkte der grünen Chemie: Wenn sie nicht besser funktionieren und weniger kosten, wird sie niemand kaufen. Deshalb müssen wir chemische Technologien finden, die diese Kriterien erfüllen. Erst dann können wir an nachhaltigen Ansätzen arbeiten.

STANDARD: Vor welchen Herausforderungen steht die grüne Chemie heute und was braucht es, um diese auch zu meistern?

Warner: Grüne Chemie ist nicht unbedingt der einfache Weg. Es ist schwierig, ein nachhaltiges Produkt zu entwickeln, das auch noch kostengünstiger ist. Noch dazu, wenn du als Forscherin oder Forscher, so viele Paper wie möglich pro Jahr veröffentlichen sollst. Ich bin da realistisch: Wir haben über zwei Jahrhunderte gebraucht, um alle Produkte zu entwickeln, die wir heute kennen. Deshalb werden wir kaum mit den Fingern schnippen können und über Nacht für alles eine nachhaltige Alternative finden. Entsprechende Gesetze könnten das Ganze jedoch beschleunigen. (Anna Tratter, 13.5.2023)