Rechtsanwältin Julia Andras erklärt im Gastblog anhand eines Falles die zentrale Bedeutung des Kindeswohls bei Fragen zur Obsorge.

Eine Ehescheidung geht stets mit großen Veränderungen für die Beteiligten einher. Dies gilt umso mehr, wenn die Eheleute gemeinsame Kinder haben. Bei der einvernehmlichen Scheidung ist die Einigung über die Obsorge zwingende Voraussetzung. Ist die einvernehmliche Scheidung nicht möglich, so kommt es zur sogenannten strittigen Scheidung, und es obliegt dem Richter oder der Richterin, eine geeignete, dem Kindeswohl entsprechende Obsorgelösung zu finden.

Während aufrechter Ehe kommt die Obsorge den Eltern gemeinsam zu. Sie sind daher jeweils selbstständig befugt, Angelegenheiten der Vermögensverwaltung und der gesetzlichen Vertretung im Alleingang zu übernehmen. Ein Elternteil kann sohin Entscheidungen betreffend medizinischer Behandlungen, der schulischen Ausbildung des Kindes oder des Aufenthaltsorts selbst treffen. Auch nach einer Trennung können die Eltern weiterhin die gemeinsame Obsorge innehaben, oder einem Elternteil wird die alleinige Obsorge übertragen. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass die Regelung über die Obsorge keinen Einfluss auf das Kontaktrecht der Eltern zu ihren Kindern hat, sondern die rechtliche Vertretung über das Kind betrifft.

Eine Kindesmutter konnte ihre alleinige Obsorge vor Gericht nicht durchsetzen. Ausschlaggebend war dabei auch ihre Einfluss auf das Vater-Kind-Verhältnis.
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In einem unlängst entschiedenen Fall versuchte sich die Kindesmutter gegen die Entscheidung des Erstgerichts in einem Obsorgeverfahren zu wehren, in welchem ihrem Antrag auf alleinige Obsorge für ihr minderjähriges Kind nicht stattgegeben wurde. Zuletzt durfte sich der Oberste Gerichtshof (OGH) mit dem Fall auseinandersetzen.

Verhältnis von Konflikten geprägt

Die Kindesmutter warf den Vorinstanzen im Obsorgeverfahren die Mangelhaftigkeit des Verfahrens vor, da diese nicht den von ihr gewünschten Sachverhalt feststellten. Der OGH sprach dazu aus, dass der geltend gemachte Rekursgrund nicht gesetzmäßig ausgeführt wurde und stellte weiters klar, dass die getroffene Obsorgeentscheidung richtig war.

So sei die Mutter zwar gut in der Lage, die Versorgung des Kindes im Alltag zu gewährleisten und das Kind zu fördern. Im Gegensatz zum Vater sei ihre emotionale Feinfühligkeit und ihre mütterliche Bindungstoleranz aber stark eingeschränkt. Das Verhältnis zwischen der Kindesmutter und dem Kindesvater ist von zahlreichen Konflikten geprägt, dies vor allem durch zu Unrecht erhobene Anschuldigungen und Vorwürfe durch die Kindesmutter gegen den Kindesvater. Gegenüber dem minderjährigen Kind vermittelt die Kindesmutter ein stark negatives und gar dämonisierendes Vaterbild.

Vor diesem Hintergrund sei die Kindesmutter nicht in der Lage, die Beziehung des minderjährigen Kindes zu seinem Vater in der erforderlichen Weise zu unterstützen. Zwischen den Eltern gibt es kaum Kooperation und Kommunikation und die Wahrscheinlichkeit, dass sich dies in absehbarere Zeit deutlich verbessert, ist nach den Feststellungen des Gerichts "eher gering".

Kindeswohl im Mittelpunkt

Nach dem OGH kommt es bei der Obsorgeentscheidung allein auf das Kindeswohl an. Eine Kindeswohlgefährdung braucht es dagegen nicht. Darüber hinaus ist ein Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit zur Ausübung der gemeinsamen Obsorge notwendig.

Bei der Beurteilung der Obsorgeentscheidung spielt die sogenannte Bindungstoleranz eine wichtige und ausschlaggebende Rolle in der uneingeschränkten Erziehungsfähigkeit und stellt damit ein bedeutsames Kindeswohlkriterium dar. Gemeint ist die angemessen ausgeprägte Fähigkeit und Bereitschaft durch ein Elternteil, die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil zu respektieren und zu fördern. Es ist daher nicht ausreichend seinem Kind eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein, um dem Kindeswohl entsprechend zu handeln. Es ist vielmehr auch notwendig, eine akzeptable Beziehung zu dem anderen Elternteil aufzubauen sowie auch die Beziehung des anderen Elternteils zum Kind zu akzeptieren und zu fördern.

Diese Entscheidung zeigt einmal mehr, worauf es hinsichtlich der gemeinsamen Erziehung und Obsorge nach der Trennung der Eltern tatsächlich ankommt. Das Kind und dessen Wohl stehen stets im Mittelpunkt. Die Beziehung zwischen den Eltern und deren Einfluss auf das Kind können dabei keineswegs ignoriert werden. Sind die Eltern nicht in der Lage, die zwischen ihnen bestehenden Konflikte gegenüber dem gemeinsamen Kind außen vor zu lassen, riskieren sie den Verlust der gemeinsamen Obsorge. (Julia Andras, 5.5.2023)