Das Schaukeln als Befreiungsakt spielt bereits in Seidls Spielfilmdebüt "Hundstage" eine Rolle. In "Sparta" schaukelt Georg Friedrich.

Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion

Es war eine schwere Geburt. Neun Monate nach der abgesagten Premiere beim Toronto International Film Festival kommt Ulrich Seidls Sparta nun in die heimischen Kinos. Die Filmproduktion war letzten September aufgrund von Recherchen des Spiegel in die Kritik geraten: Unter anderem wurde den Verantwortlichen vorgeworfen, Aufsichtspflichten während des Drehs vernachlässigt und Kinder mit Gewalt und Nacktheit konfrontiert zu haben.

Vertragsprüfung ohne "Code of Ethics"

Ulrich Seidl bestritt die Vorwürfe und reiste im Anschluss, um Schadensbegrenzung bemüht, nach Rumänien, wo er den Familien den Film zeigte und sich schriftliche Einverständniserklärungen einholte, dass diese mit dem Gezeigten einverstanden seien (Verträge mit den Darstellenden und deren Erziehungsberechtigten gab es bereits vor Drehbeginn)*. Die Einverständniserklärungen waren ausschlaggebend für den Ausgang der Prüfung des Hauptfördergebers, des österreichischen Filminstituts (ÖFI), die keine Vertragsverletzungen feststellte. Der 2021 eingeführte "Code of Ethics", der die ethischen Bedenken an den Produktionsumständen inkludiert hätte, war nicht Teil der Prüfung des 2016 geschlossenen Vertrags.

Kurz vor der Wien-Premiere des Films auf der Viennale, wo Autor Michael Köhlmeier dem Filmemacher in die Bresche sprang, hat Seidl in Interviews eingestanden, dass er den Eltern den Film hätte zeigen sollen. Der Vorwurf aber, er habe den Eltern vorenthalten, dass es in dem Film um Pädophilie gehe, prallte an ihm ab. Vätergewalt und die Suche nach Zärtlichkeit sei das Thema, betonte der Regisseur. Paradox nur, dass das Drehbuch von ihm und Veronika Franz auf der Geschichte eines verurteilten Pädokriminellen basiert.

Eine wahre Geschichte

Inspiration bot der Deutsche Markus R., der sich Anfang der 2000er-Jahre in der Gegend um Satu Mare als Karatelehrer ausgab und so das Vertrauen der dort lebenden Kinder gewann. Er ließ sie in einem mit Tarnplanen abgedeckten Bereich im Pool planschen, Gladiatoren spielen – und filmte sie. Die Filme verkaufte Markus R. für bis zu 3.000 Euro auf einer kanadischen Onlineplattform für pädokriminelle Inhalte, wo die Nachfrage nach "naturalistischen" Filmen groß war. Aufgeflogen ist das in einem der größten Pädokriminalfälle Deutschlands, als beim deutschen Politiker Sebastian Edathy unter anderem Filme von Markus R. sichergestellt wurden. Wie reflektiert Sparta diese Vorgeschichte? Die Antwort lautet leider: gar nicht. Er kopiert.

Zwei Brüder

Sparta ist das Bruderstück zu Rimini, das den abgehalfterten Schlagersänger Richie Bravo (Michael Thomas) in dem winterlichen italienischen Küstenstädtchen porträtiert. Das Scharnier zwischen den Filmen, die gemeinsam unter dem Titel Böse Spiele firmieren, ist der demente Vater, der in der Geriatrie Naziparolen von sich gibt und wahlweise Schubert oder Marschgesänge hört.

Im Gegensatz zu Richie kümmert sich der von Georg Friedrich gespielte Ewald in Sparta liebevoll um den Vater, wenn er nicht gerade als Ingenieur in einer tristen Gegend Rumäniens arbeitet. Dort hat er eine attraktive Freundin, die ihn sogar heiraten möchte. Im Bett läuft’s aber (trotz der in Seidl-Filmen obligaten Reizwäsche) nicht, weshalb Ewald, der am glücklichsten ist, wenn er mit Kindern rauft, die Flucht ergreift.

Ewalds Aufbruch

Ewalds Aufbruch wird mit einem dezenten Wechsel in Tonalität und Form orchestriert. Georg Friedrich spielt nicht nur befreiter, auch das Bild lässt von den altbekannten, tristen Seidl-Tableaus ab. In einem Dorf in Satu Mare mietet Ewald eine baufällige Schule und wirbt gezielt um Buben, um sie im Judo zu unterrichten. Um die Schule herum errichten sie eine Festung namens Sparta. Drinnen gibt es Matten, eine Wassertonne und Gemeinschaftsduschen. Hinein kommt man nur mit Codewort.

Die Kinder kommen gerne zum netten, nur gebrochen Rumänisch sprechenden Ewald. Er spielt mit ihnen, kauft Eis und lässt sie in Unterhosen für seine Fotos posieren. Abends im stillen Kämmerchen zoomt Ewald dann die Bilder heran: auf das Lächeln, die Brustwarzen, den Schritt. Besonders gefällt ihm der etwa achtjährige Octavian, zart und blond wie ein Visconti-Bub.

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Die bösen Väter

Das geht so dahin, bis die groben rumänischen Väter Verdacht schöpfen. Die plump ausgestellte Väterbrutalität bekommt in Kombination mit dem Pädophilie-Thema den trüben Beigeschmack abwegiger Reformpädagogik: nämlich die verharmlosende Idee, dass Pädophile die zärtlicheren Väter seien. Seidl selbst sagte in einem Interview mit der Presse, dass Männer mit pädophiler Neigung seiner Ansicht nach ein guter Umgang für Kinder seien, solange sie nicht straffällig würden. Er berief sich dabei auf das Präventionsprojekt "Kein Täter werden".

Was ihm und den Diskussionen um den Film, die einhellig die Sensibilität der Darstellung eines mit sich ringenden Pädophilen loben, gerne entgeht: Ewald geht seiner Neigung nach. Sich Kindern gegenüber als väterlicher Freund auszugeben, ihr Vertrauen zu gewinnen und so die Grenzen ihrer Intimsphäre Stück für Stück zu versetzen mit dem Ziel, enthüllende Aufnahmen von ihnen zu machen, ist unter dem Begriff Grooming ein Tatbestand. Auch die schale Bezugnahme auf die griechische Antike in Titel und Motivik kommt zweischneidig daher, denn die altgriechische Knabenliebe wird gern als Legitimation pädophilen Begehrens ins Feld geführt.

Verharmlosend

Bei so viel Verharmlosung muss man schon fast den bösen Vätern die Stange halten, die Ewald an den Kragen wollen. Ein Glück, dass die rumänischen Laien ihre Rollen laienhaft spielen. So zumindest schleicht sich endlich eine kritische Distanz in den Film, die man andernorts schmerzlich vermisst. Denn die grobschlächtigen Väter wirken derart gesetzt, dass der Idee der simplen und rassistisch eingefärbten Vätergewalt das Wasser abgegraben wird.

Ewalds beunruhigender Aufbruch ist indes trotz seiner durchgängigen, und für Seidl-Filme ungewöhnlichen, Triebzügelung nicht zu Ende. Er kommt ungeschoren davon und beginnt geradezu beschwingt das böse Spiel in einem anderen Dorf, einer anderen Schule von neuem. Wie weit er dieses Mal gehen wird, bleibt im Off, wie so vieles in dieser, bei aller Strittigkeit, unausgegorenen Produktion. (Valerie Dirk, 4.5.2023)