Marxismus ist ein überstrapazierter Begriff, sagt Miriam Gassner in ihrem Gastkommentar. Gassner ist Lehrbeauftragte an der Universität Wien und Senior Research Fellow an der Universität Freiburg und forscht zum Einfluss des Marxismus auf die Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920.

"Der Marxismus ist eine gute Brille, um auf die Welt zu schauen."

Das von Andreas Babler in einem ORF-Interview ausgesprochene Bekenntnis zum Marxismus hat eine Welle an Emotionen auch abseits der österreichischen Sozialdemokratie ausgelöst: Dass Babler "sich zu solchen Aussagen hinreißen lässt, ist besorgniserregend. Ein möglicher Parteivorsitzender der SPÖ sollte nicht Revolutionen befürworten, sondern mit beiden Beinen am Boden der Demokratie stehen", sagte etwa JVP-Generalsekretär Dominik Berger.

Marxismus, erklärt in unter drei Minuten.
DER STANDARD

Streitbare Ideologie

Kaum ein Begriff polarisiert bis heute so stark wie jener des Marxismus. Für die einen ist er ein antidemokratisches Schreckgespenst, ein Vorbote von Enteignung und Diktatur, für die anderen ein Synonym für soziale Gerechtigkeit, einen starken Sozialstaat und Chancengleichheit.

Der Marxismus polarisiert bis heute.
Illustration: Fatih Aydogdu

Unter dem Sammelbegriff des Marxismus kann von der Gesinnung der Anhänger Karl Marx’ im Streit mit dem Anarchisten Michail Bakunin um die Ausrichtung der Internationalen Arbeiterassoziation ("Erste Internationale") im 19. Jahrhundert über den "Sowjetmarxismus" im 20. bis hin zur Neuen Linken in Deutschland heute alles – und nichts – verstanden werden.

Ursprünglich stand der Marxismus lediglich für die von Marx und Friedrich Engels entwickelte Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie, kurz darauf entwickelte sich daraus eine eigene Philosophie und wissenschaftstheoretische Strömung, die ihrerseits bald viele verschiedene Ausrichtungen hervorbrachte, die oft mit den ursprünglichen Ideen Marx’ nur noch periphere Berührungspunkte aufwiesen.

Undifferenzierte Zuschreibung

Als politische, wissenschaftliche und ideengeschichtliche Strömung werden dem Marxismus gemeinhin sowohl der Sozialismus als auch der Kommunismus zugerechnet. Die unterschiedlichsten Personen werden bis heute kollektiv und undifferenziert als "Marxisten" bezeichnet: von den Franzosen Paul Lafargue und Jules Guesde im 19. Jahrhundert über die russischen Kommunisten Lenin, Stalin und Trotzki im 20. Jahrhundert bis hin zur einstigen Vorsitzenden der österreichischen Grünen, Eva Glawischnig, die ÖVP-Politiker Andreas Khol einst "eine schöne Marxistin" nannte. Wie also kann die Aussage Bablers verstanden werden, und welche Ausrichtung des Marxismus meint er?

Eines hat Babler in diesem Interview klargemacht: Er kommt aus der österreichischen Sozialdemokratie, ist ein "Mann der Basis" und wurde während der Ära Vranitzky durch die Jugendorganisationen der SPÖ politisch sozialisiert. In diese Zeit fiel auch die strikte "Ausgrenzungspolitik" gegenüber der FPÖ, für die Babler ebenso eintritt wie für einen "starken Sozialstaat" und eine Rückkehr zu den (historischen) Wurzeln der Sozialdemokratie. Mit seiner Aussage über den Marxismus als "Sehhilfe" bezieht er sich ganz offenkundig auf den "Austromarxismus", eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus der Wiener sozialistischen Studentenbewegung hervorgegangene Strömung, die in vielen Punkten auch im Gegensatz zum revolutionären Marxismus stand.

Der "dritte Weg"

Die Austromarxisten (zu denen etwa der spätere Bundespräsident Karl Renner, der spätere Staatssekretär des Äußeren Otto Bauer, der spätere deutsche Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding und der spätere Landtagsabgeordnete und Professor an der Universität Wien Max Adler zählten) begründeten einen "dritten Weg" zwischen Reformismus und Bolschewismus und versuchten, die marxistische Methode auf politische und soziale Probleme der untergehenden Habsburgermonarchie anzuwenden.

"Von allen drei politischen Lagern waren die Austromarxisten die Einzigen, die die Demokratie nie bekämpften."

Diese "Herren Genossen Doktoren", wie der russische Revolutionär Leo Trotzki die Austromarxisten abwertend nannte, machten – und das muss betont werden – die "soziale Revolution" und die "Etablierung der Diktatur des Proletariats" stets vom Erringen der absoluten Mehrheit im Rahmen der real existierenden parlamentarischen Demokratie abhängig und grenzten sich so von der leninistischen Interpretation des Marxismus ab.

"Unter Beachtung aller demokratischen Spielregeln wurden bedeutende soziale Reformen umgesetzt."

Auch wenn die Austromarxisten die Geschicke der jungen Republik (Deutsch-)Österreich nur zwischen 1918 und 1920 leiteten und es bis 1945 dauerte, dass sie wieder Regierungsverantwortung übernehmen konnten, wurden in diesen zwei Jahren nach der Republiksgründung unter Beachtung aller demokratischen Spielregeln bedeutende soziale Reformen umgesetzt: So wurde der Achtstundentag gesetzlich verankert, ein Arbeiterkammergesetz beschlossen, die Sozialversicherung ausgebaut, Kinderarbeit verboten und ein Urlaubsanspruch für Arbeiter eingeführt. Mit zahlreichen Schulreformen wurde das "Rote Wien" zu einem "Mekka der Pädagogik", und auch die (Aus-)Bildungsmöglichkeiten für Frauen wurden ab 1918 deutlich erweitert. Schließlich wurde auf Initiative Renners eine Bundesverfassung ausgearbeitet, die mit Änderungen bis heute in Kraft ist und deren "Eleganz" erst kürzlich von Bundespräsident Alexander Van der Bellen gelobt wurde.

Radikale Rhetorik

Ja, die Rhetorik der Austromarxisten in der Ersten Republik war – wie bei allen politischen Parteien jener Zeit (!) – von großer Radikalität geprägt ("Demokratie, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel"). Doch von allen drei politischen Lagern waren die Austromarxisten schlussendlich die Einzigen, die die Demokratie nie bekämpften.

Vor diesem Hintergrund ist Bablers Marxismus-Sager zu bewerten. Sein Ausspruch erscheint als ein Zeichen, eine Ankündigung, wieder eine konkrete Ideologie ins Parteiprogramm aufzunehmen, anstatt für alles und nichts zu stehen, als eine Besinnung auf die eigentlichen Wurzeln der österreichischen Sozialdemokratie und nicht als ein Aufruf zu einer antidemokratischen Revolution. (Miriam Gassner, 13.5.2023)