Heny Kissinger, der am Samstag einhundert Jahre alt wird, ist eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichtsschreibung und in der Weltpolitik. Ein Ende April an zwei Tagen acht Stunden lang aufgenommenes und soeben veröffentlichtes Interview mit dem Londoner Economist zeigt, dass der als deutscher Jude 1938 mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten geflohene Kissinger auch als Hundertjähriger noch in der Lage ist, politische Impulse zu geben.

Niemand verfügt heute über größere Erfahrungen in der internationalen Politik als er: Zuerst als Autor bahnbrechender Bücher; dann 1969 bis 1977 als US-amerikanischer Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister und in den letzten 46 Jahren als hochbezahlter Berater und Vermittler weltweit für Staatspräsidenten, Regierungschefs und Konzernvorstände.

Henry Kissinger bei einer Rede Anfang Februar.
Foto: Imago Images/Brian Cahn

Von seinem ersten Buch über Großmacht-Diplomatie über Metternich, Bismarck und Castlereagh bis zum Economist-Interview betrachtet er das Gleichgewicht der Kräfte als die Grundlage der Stabilität, vorausgesetzt, dass jede Macht grundsätzlich die Interessen der jeweils anderen anerkennt. Menschenrechte sollen in Betracht gezogen werden, aber nicht die Interessen überschatten, auch dann nicht, wenn diese die erwünschte Änderung nicht schaffen. Als Realpolitiker hatte er Interessen über Werte gestellt, nicht nur bei der Öffnung nach China, sondern auch auf dem Weg zum Ende des Vietnamkrieges und zum Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende 1973. Wegen seiner Rolle in beiden Fällen wurde er scharf kritisiert.

Heute sei er vor allem besorgt wegen des Konflikts zwischen China und den USA, der innerhalb von zehn Jahren in einen zerstörerischen Krieg münden könnte; und er plädiert deshalb auch in der Frage Taiwans für Zurückhaltung auf beiden Seiten. Er begrüßt die ukrainische Reaktion auf das chinesische Vermittlungsangebot trotz der Deklaration der "grenzenlosen Partnerschaft" mit Russland. Die weise Haltung Wolodymyr Selenskyjs zeige, dass er eine Führungspersönlichkeit sei.

Frieden in Europa

Der Ukrainekrieg sollte laut Kissinger so beendet werden, dass er nicht die nächste Runde des Konflikts eröffnet. Russland sollte so viel wie nur möglich von dem seit 2014 eroberten Gebiet aufgeben. Aber Russland müsste im Falle eines Waffenstillstandes zumindest die Marinebasis Sewastopol am Schwarzen Meer behalten. Eine solche Vereinbarung, wonach Russland manche Gewinne aufgibt, aber andere behält, würde bedeuten, dass beide Seiten unzufrieden bleiben.

Im Interesse eines dauerhaften Friedens in Europa befürwortet Kissinger deshalb sogar die Aufnahme der Ukraine in die Nato, um sie nach der massiven Aufrüstung mit den modernsten Waffen zu kontrollieren und zugleich zu schützen.

Gleichzeitig müsste Europa mit einer Annäherung an Russland den Weg zu einer stabilen Ostgrenze ebnen. Es ist natürlich zweifelhaft, ob die meisten westlichen Staaten derzeit überhaupt die auch von Kissinger selbst als zwei "Fantasiesprünge" bezeichnete Ideen akzeptieren würden.

Der kühl formulierende und geistesgegenwärtige Henry Kissinger denkt übrigens auch hundertjährig bereits an zwei neue Bücher über die künstliche Intelligenz und die Natur der Bündnissysteme. (Paul Lendvai, 22.5.2023)