Was die türkische Opposition bei diesen Wahlen geschafft hat, war mehr als respektabel. Aber die 52,1 Prozent Recep Tayyip Erdoğans in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sind gerade noch komfortabel: kein Erdrutschsieg, aber eindeutig. Allein schon angesichts des neuerlichen Absturzes der türkischen Währung vor dem Wahlgang wäre jetzt im gigantomanischen Präsidentenpalast in Ankara allerdings mehr Nachdenklichkeit als Triumphalismus angesagt.

Die 52,1 Prozent Recep Tayyip Erdoğans in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sind gerade noch komfortabel: kein Erdrutschsieg, aber eindeutig.
APA/AFP/ADEM ALTAN

Abgesehen davon, dass Selbstzweifel in Erdoğan nicht angelegt sind, würde es seine Anhänger und Anhängerinnen, die ihn genau wegen seiner selbstversichernden Erzählungen gewählt haben, nur enttäuschen. Sie wollen ihn, weil er mächtig ist, und nicht, weil er sich fragt, was er falsch gemacht hat.

Deshalb ist es Erdoğan auch gelungen, die Fragen nach dem Zustand des Staates hinter seiner nationalistisch-islamischen Identitätspolitik in die zweite Reihe zu drängen: Uns geht es nicht besonders gut – aber die Türkei ist wieder groß. Das "great again" ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, die Erdoğan mit anderen Populisten dieser Welt verbindet. Frappierend war der Umgang mit "Postfaktischem" in seinem Wahlkampf. Er gab zu, dass das Video, das seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu in die Nähe von Terrorismus rückte, ein Machwerk war. Aber das sei irrelevant. Und das war es dann auch.

Transaktionales Prinzip

Wenn es Kurskorrekturen geben wird in seiner nächsten Präsidentschaft, dann werden sie wohl langsam erfolgen. Das gilt für die Wirtschaftspolitik wie für die Außenpolitik. Mit seiner Sicht, dass das postsowjetische unipolare Zeitalter ausgelaufen ist und dass Staaten wie die Türkei in alle Richtungen schauen und agieren müssen, steht er nicht allein da. Auf diesem Kurs sind auch noch engere Partner der USA als Ankara. So kann man die Ukraine unterstützen und Putin einen "Freund" nennen. Das transaktionale Prinzip wird weiter dominieren, das heißt zum Beispiel, einen Nato-Beitritt Schwedens müssen sich die Beteiligten – nicht nur Schweden selbst, auch die USA und die anderen – erst erarbeiten.

Wenn Erdoğan sagt, dass er dem Land bis an sein Lebensende erhalten bleiben wird, dann weiß man nicht, ob er seine eigene Endlichkeit anspricht oder ob er meint, dass die Türkei ohne ihn kaum vorstellbar ist. Angesichts seiner Fragilität steht jedoch die Frage im Raum, wie seine Nachfolge in der AKP und im Staat, der mit seiner Person immer mehr verschmolzen ist, geregelt wird.

Die alten politischen und militärischen Eliten gibt es nicht mehr. Einige starke AKP-Politiker, die früher als zukunftsträchtig galten, sind abgesprungen, wie Ex-Premier Ahmet Davutoğlu oder Ex-Außenminister Ali Babacan, die gemeinsam mit der Opposition verloren haben. Bei anderen, wie Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak, ist inzwischen der Lack ab.

Wird Erdoğan diesmal einen politisch signifikanten Vizepräsidenten ernennen, wird ein Kronprinz in anderer Funktion erscheinen? Für jene, die hoffen, dass die Türkei nicht weiter in eine antidemokratische Richtung abdriftet, ist das Albtraumszenario der Aufstieg von Innenminister Süleyman Soylu. Er durfte während des – die Opposition ohnehin benachteiligenden – Wahlkampfs ungehindert seine Verachtung für demokratische Abläufe zeigen. Hoffentlich ist das nicht die Zukunft für die Türkei.(Gudrun Harrer, 29.5.2023)