"Aire, Aire!", schallt es durch die Straßen der Candelaria, des kolonialen Altstadtviertels von Bogotá. Jedes Mal, wenn eine Gruppe Radfahrer um die Ecke biegt, bietet ein junger Mann lauthals an, die Reifen aufzupumpen. Auch Kette schmieren, Schaltung und Bremsen einstellen – für ein paar Tausend Pesos, umgerechnet ein oder zwei Euro, macht er Räder wieder fit. Auf einer Decke hat er Fahrradteile ausgebreitet, auf dem Gehsteig stehen zwei Fahrradpumpen, daneben liegt ein Stapel Reifen.

Sonntag ist Ciclovía-Tag in der kolumbianischen Hauptstadt und auch der Tag, an dem man mit kleinen Servicearbeiten und dem Verkauf von Ersatzteilen ein wenig Geld verdienen kann. Kunden wird es an diesem Sonntag genug geben, denn das Wetter ist schön. An solchen Tagen können bis zu einer Million Bogotános ihre Runden auf der Ciclovía drehen. Bereits vor Sonnenaufgang wurden die Absperrungen mit den gelben Hinweisschildern aufgestellt. Kaum steigt die Sonne über den Horizont, schwingen sich Tausende aufs Fahrrad. Die Rennradler nutzen die kühlen Morgenstunden in den Anden, um ihre Trainingsrunden zu absolvieren.

Am Sonntag wird die Hälfte einiger Hauptverkehrsstraßen in Bogotá für den motorisierten Verkehr gesperrt, um Radlern Platz zu machen.
Am Sonntag wird die Hälfte einiger Hauptverkehrsstraßen in Bogotá für den motorisierten Verkehr gesperrt, um Radlern Platz zu machen.
Wolfgang Simlinger

Aus den Seitengassen strömen immer mehr Menschen hin zur Ciclovía, im Wolkenkratzerviertel rund um den Torre Colpatria stehen Infostände entlang der Radstrecke. Sportliche junge Frauen und Männer mit roten Jacken und Walkie-Talkies stehen für Fragen bereit und sorgen dafür, dass auf der Ciclovía alles reibungslos abläuft. Sie regeln das Chaos an dicht befahrenen Kreuzungen und holen Hilfe, wenn jemand eine Brezn reißt.

Die Hälfte von zehn Spuren

Die Avenida El Dorado kreuzt die Carrera Séptima. Die beiden Stadtstraßen zählen zu den wichtigsten Verkehrsrouten Bogotás. Während ein Teil der Septima permanent zur Fußgängerzone erklärt wurde, stellt die Avenida El Dorado an Wochentagen die wichtigste Verbindung zwischen Zentrum und Flughafen dar. Am Sonntag ist die Hälfte der zehnspurigen Straße für den motorisierten Verkehr gesperrt. So wie viele andere Straßen in Bogotá gehört die Hälfte der Avenida El Dorado am Wochenende den Radfahrerinnen, Skatern, Joggerinnen und Spaziergängern.

Ein drahtiger älterer Herr pedaliert gemütlich die Séptima entlang. Auf dem Kopf trägt er ein Kapperl, dessen Schriftzug jenem von Coca-Cola ähnelt. "Ciclovía – 50 Años" steht in geschwungenen Lettern auf der Kappe. 2024 wird die wahrscheinlich größte Fahrradveranstaltung der Welt ihren Fünfziger feiern. Jaime Ortiz Mariño heißt der Herr mit der Kappe. Er war Anfang der 1970er-Jahre treibende Kraft der bis heute größten Fahrradinitiative. Als junger Architekturstudent wurde er in den USA Zeuge eines gesellschaftlichen Wandels. Als er nach dem Studium in sein Heimatland zurückkehrte, machte er sich Gedanken über die Zukunft seiner Heimatstadt.

Radfahren hat in Kolumbien eine lange Tradition. Das Fahrrad dient nicht nur der sportlichen Betätigung, es ist aus dem Alltag nicht wegzudenken.
Radfahren hat in Kolumbien eine lange Tradition. Das Fahrrad dient nicht nur der sportlichen Betätigung, es ist aus dem Alltag nicht wegzudenken.
Wolfgang Simlinger

Am 15. Dezember 1974 organisierte Ortiz Mariño zusammen mit ein paar Aktivisten die "Gran Manifestación del Pedal" – die Carrera Séptima wurde zur autofreien Zone erklärt. Bereits die erste Veranstaltung besuchen fast 5000 Teilnehmer. Mit jeder weiteren Ausgabe bekamen mehr Leute Lust aufs Radfahren ohne motorisierte Verkehrslawine. Nach einer zweijährigen Pilotphase wurde die Ciclovía zum kommunalen Programm und regelmäßig stattfindenden Event. Immer mehr Straßenzüge wurden an Sonn- und Feiertagen für den motorisierten Verkehr gesperrt. Aktuell sind es 127 Kilometer, von der schmalen Altstadtstraße bis hin zur mehrspurigen Hauptverkehrsroute.

Erkundung mit dem Hollandrad

"Es ist ein Theater, in dem jeder die Hauptrolle spielt", sagt Ortiz Mariño und schwingt sich auf sein altes Fahrrad. "Folge mir, wir fahren die Séptima hinunter, die Straße, an der alles begann." Die Carrera Séptima zieht sich auf einer Länge von mehr als 23 Kilometern durch das Stadtgebiet. Entlang der Straße befinden sich auch bedeutende Sehenswürdigkeiten wie das Goldmuseum, das Nationalmuseum und die Iglesia de San Francisco, mit ihrem vergoldeten Altarraum eine der berühmtesten Kirchen des Landes. Auch das Ausgehviertel Chapinero mit seinen unzähligen Bars und Restaurants liegt entlang der Carrera Séptima, in deren Mitte ein blau markierter Fahrradweg verläuft. Wir cruisen durch die modernen Viertel im Norden der Stadt, als sich beim Hinterreifen Luftverlust bemerkbar macht. "Mach dir keine Sorgen, an der nächsten Ecke ist jemand, der Luft in den Reifen pumpt", beruhigt Ortiz Mariño.

Die Ciclovía ist zum Wirtschaftsfaktor geworden. Hunderte Händler verkaufen entlang der Strecke Getränke und Snacks, andere Ersatzteile, Helme, Fahrradbekleidung und sogar komplette Fahrräder. Gegen Mittag herrscht reger Betrieb entlang der Fahrradwege. Radfahrer, so weit das Auge reicht – sportliche Typen auf schicken Italo-Rennrädern, Pensionisten auf bequemen Holland-Modellen, vollbärtige Hipster mit Singlespeeds, große Hunde an der Leine und kleine Wauzis im Körberl. Wenn um 14 Uhr die Absperrgitter entfernt und die Straßen wieder für den motorisierten Verkehr freigegeben werden, ist die Party noch nicht zu Ende. In den Parks entlang der Straßen spielen Musikgruppen, in den Gastgärten lässt man den Tag bei einem gemütlichen Bier ausklingen.

Fahrräder und Autobusse

Radfahren hat in Kolumbien eine lange Tradition. Das Fahrrad dient nicht nur der sportlichen Betätigung, es ist aus dem Alltag nicht wegzudenken. Am Land war es immer schon wichtiges Fortbewegungs- und Transportmittel, und als in Zeiten des Bürgerkriegs viele aus den ländlichen Gebieten in die Großstädte vertrieben wurden, eroberte das Fahrrad auch den urbanen Raum. Nur wenige Kolumbianer können sich ein eigenes Auto leisten. Im Gegensatz zu Europa, wo ungefähr 500 Pkws auf 1000 Einwohner kommen, liegt das Verhältnis in Kolumbien gerade mal bei 36 Autos pro 1.000 Einwohner.

Großzügige Radwege durchmessen die Hauptstadt Kolumbiens.
Großzügige Radwege durchmessen die Hauptstadt Kolumbiens.
Wolfgang Simlinger

Der Autobus ist das wichtigste Massentransportmittel. Für europäische Verhältnisse erscheint der Bus günstig, aber viele Menschen in Kolumbien können sich kein Busticket leisten. Manche Menschen meiden die Busse, da im Gedränge schnell mal das Handy oder die Geldbörse unfreiwillig den Besitzer wechseln. Und viele Kolumbianer haben nach wie vor Angst, sich im Bus mit dem Corona-Virus zu infizieren. Das Fahrrad bietet hier die effizienteste und günstigste Alternative, um in der Stadt vorwärtszukommen. Für viele Bogotános bildet es zudem den Grundstein ihrer Erwerbstätigkeit. Zahlreiche Transportfahrräder sind auf den Straßen unterwegs, mit denen Essen geliefert, Müll entsorgt und Obst und Gemüse transportiert werden. Manche Lastenräder dienen als fahrendes Geschäft – direkt von der Ladefläche werden Obst, Fruchtsäfte, Snacks oder Sonnenbrillen verkauft.

Sorge um die Radwege

Aber Ortiz Mariño ist besorgt um die Ciclovía. Die Einwohnerzahl Bogotás wächst stark an, und der Verkehr nimmt permanent zu. In den letzten Jahren verließen viele Menschen das krisengeschüttelte Venezuela und versuchen hier im Nachbarland ihr Glück. Man schätzt, dass fast eine Million Menschen in den letzten Jahren Bogotá zur neuen Heimat gemacht haben. Um dem Anstieg des Verkehrs Herr zu werden, soll das städtische Autobussystem erweitert werden. Im Zuge dieser Erweiterung würde in manchen Bereichen der Séptima der Fahrradstreifen wegfallen.

Manche Radfahrer halten ihre Stolz über diese Errungenschaft mit einem Selfie fest.
Manche Radfahrer halten ihre Stolz über diese Errungenschaft mit einem Selfie fest.
Wolfgang Simlinger

"Der Verkehr in der Stadt kann nur funktionieren, wenn man alle Möglichkeiten miteinbezieht", meint Ortiz Mariño, der sich für die Beibehaltung der Radwege einsetzt. Er ist davon überzeugt, etwas Nachhaltiges geschaffen zu haben. Sein Konzept der Ciclovía wurde in Cali und Medellín übernommen, zahlreiche andere Städte in Lateinamerika führten autofreie Tage ein und öffnen seither am Wochenende Straßen für den Fahrradverkehr. Auch in Indonesien, Indien, Malaysia, Neuseeland, Australien, Israel und in den USA findet die Idee Anklang. Und sogar in Österreich dürfen sich die Rad­fahrer am 22. September über einen autofreien Tag freuen, an dem ein paar Kilometer Straßen vom motorisierten Verkehr ­befreit werden. (Wolfgang Simlinger, RONDO, 15.6.2023)