Es gibt etwa zehnmal mehr Rechts- als Linkshänder. Bei Frauen sind die Zahlen ähnlich. Diese Tatsache ist bei genauerer Betrachtung verblüffend, immerhin sind Menschen, deren linke Hand dominant ist, mindestens so leistungsfähig und geschickt wie die anderen – entgegen historischen Vorurteilen, die linkshändige Schülerinnen und Schüler zwangen, mit ihrer schwächeren Hand schreiben zu lernen. In einer Welt, die keiner der beiden Varianten Vorteile bietet, hat das Herausbilden einer dominanten Hand eigentlich keinen Sinn. Eine definitive Erklärung gibt es bislang nicht.

Ein ähnliches Phänomen tritt in der Natur an vielen Stellen auf, insbesondere in der Biochemie. Am bekanntesten ist vermutlich das Beispiel der Milchsäure. Es gibt sie in zwei chemisch identischen Varianten, die quasi Spiegelbilder voneinander sind. Sie lassen sich mithilfe von polarisiertem Licht unterscheiden, weil sie die Lichtwellen geringfügig nach links oder nach rechts drehen.

Ein Glas Milch
Milchsäure gibt es in zwei Geschmacksrichtungen, einer linken und einer rechten.
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Trotz ihrer identischen chemischen Zusammensetzung besteht für den menschlichen Körper ein Unterschied. Das liegt daran, dass im menschlichen Stoffwechsel nur eine der beiden Varianten gebildet wird, nämlich die rechtsdrehende. Für sie gibt es auch ein eigenes Enzym, das in der Lage ist, sie abzubauen. Für die linksdrehende Milchsäure fehlt ein solches Enzym, weshalb sie langsamer abgebaut wird.

Wählerische Natur

Entdeckt wurde die Existenz spiegelbildlicher chemischer Verbindungen 1848 vom französischen Chemiker Louis Pasteur, der auch für die Entwicklung des ersten Impfstoffs gegen Cholera bekannt ist – in leidenschaftlicher Konkurrenz zum deutschen Forscher Robert Koch, um die sich viele Geschichten ranken.

Doch wie schon bei der Dominanz von linker oder rechter Hand ist eigentlich nicht klar, warum bei Menschen eine Variante vorherrscht. Chemische Reaktionen erzeugen für gewöhnlich in gleichem Ausmaß links- und rechtshändige Moleküle. Es muss einen Mechanismus gegeben haben, der erklärt, warum Lebewesen sich in ihrer frühen Entwicklung gerade für eine Variante entschieden. Pasteur vermutete einst, das Erdmagnetfeld könnte etwas damit zu tun haben und die Vorliebe der Natur für links- oder rechtshändige Chemikalien erklären.

Eine Lous Pasteur Büste.
Eine Büste des Chemikers Louis Pasteur vor dem nach ihm benannten Institut in Paris.
STEPHANE DE SAKUTIN / AFP / pict

Doch wie genau das passiert sein könnte, war unklar. Immerhin muss nicht nur die anfängliche Auswahl einer der beiden Varianten beschrieben werden, auch wie diese ursprüngliche Präferenz sich verstärkte, um genügend Material für die ersten Zellen zu bilden, verlangt nach einer Erklärung. Kosmische Strahlen oder polarisiertes Licht könnten zwar die erste Auswahl erklären, aber nicht die Verstärkung des Effekts. Nun liefern drei neue Studien Hinweise, die tatsächlich Pasteurs ursprüngliche Vermutung zu bestätigen scheinen, wie das Journal "Science" berichtet.

Puzzelteile zusammengesetzt

Für die neue Erklärung hat ein Forschungsteam unter Leitung des Physikers Dimitar Sasselov von der Universität Harvard zwei bisherige Ansätze anderer Forschungsgruppen kombiniert. Einer berichtete davon, dass sogenannte Peptide sich nur in einer ihrer beiden Varianten an bestimmte magnetische Oberflächen binden können, während die andere Variante abgestoßen wird. Ein weiteres Team berichtete von einem Molekül namens Ribo-Aminooxazolin, kurz RAO. Bildet diese Substanz Kristalle aus ihrer links- oder rechtshändigen Variante, so können nur dazupassende Moleküle an den Kristall binden.

Pasteurs Schreibtisch.
Pasteurs Schreibtisch in einem ihm gewidmeten Museum in Paris.
STEPHANE DE SAKUTIN / AFP / pict

Sasselovs Team versuchte herauszufinden, ob auch bei RAO-Molekülen nur eine der beiden Formen sich auf magnetischen Oberflächen ablagern kann. Zu seiner Überraschung wurde eine der beiden Varianten zu 60 Prozent bevorzugt. Als Kristalle zu wachsen begannen, verwandelten diese sich nach und nach in reine Kristalle mit nur einer der beiden Varianten von RAO.

Offene Fragen

Noch ist nicht völlig klar, ob der Prozess in der Natur wirklich so ablief. Das Magnetfeld, das im Experiment zum Einsatz kam, war 6.500-mal stärker als das Erdmagnetfeld. Solche Bedingungen waren selbst auf der frühen Erde nicht realistisch. Fachleute sprechen dennoch von einem Durchbruch.

Das Team berichtet zudem davon, dass auch schwächere Magnetfelder einen Effekt haben. Weitere Selbstordnungseffekte könnten diesen ausreichend verstärken. Ist erst einmal ein RAO-Kristall vorhanden, so kann dieser etwa RNA-Bestandteile ordnen. Diese würden dann bedingen, dass auch andere Stoffwechselmoleküle nur in einer rechts- oder linkshändigen Variante vorkommen – letztlich auch die Milchsäure.

So oder so ähnlich könnte es sich also vor Urzeiten zugetragen haben. Für die Entwicklung des Lebens war es entscheidend, den "Spiegel zu zerbrechen", sagt der Chemiker Gerald Joyce zu "Science". Viele Mechanismen des Lebens, speziell in der DNA, funktionieren nur, wenn ausschließlich eine der beiden Varianten der involvierten Moleküle vorhanden ist. (Reinhard Kleindl, 17.6.2023)