Keersmaeker, Festwochen Exit Above
Ein Dialog zwischen Musik und Bewegung über die Geburt der Popmusik aus dem Schoß des Blues.
Anne Van Aerschot

Als die Singer-Songwriterin Meskerem Mees gerade einmal zwei Jahre alt war, stellte sich Anne Teresa De Keersmaeker auf die Bühne und tanzte allein zu dem Album Joan Baez in Concert, Part 2 aus den frühen Sixties, unter anderem mit We Shall Overcome. Knapp zwei Jahre später, 2004, machte Once im Wiener Akademietheater Furore.

Diesem tief berührenden Solo hat die belgische Starchoreografin jetzt mit Exit Above – After the Tempest / Nach dem Sturm eine Art Fortsetzung hinzugefügt: Sie gehört mit Mees' unwiderstehlicher Stimme und dem Tanz einer jungen Crew zu den ganz starken Stücken der diesjährigen Wiener Festwochen. Der Titel bezieht sich auf Walter Benjamins Text Über den Begriff der Geschichte. Darin ist von einem "Engel der Geschichte" die Rede, der sein "Antlitz der Vergangenheit zugewendet" hat.

Wiener Festwochen

Benjamins Worte werden einleitend auf die nackte schwarze Bühnenrückwand projiziert: "Ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." Was auf die Projektion folgt, ereignet sich wie unter den Schwingen dieses Engels: eine extrem elaborierte, aber doch lässig wirkende Choreografie mit tiktokhaftem Posing und abwechselnd tastendem oder exzessivem Tanz inklusive Breakdance, Gehen, Laufen, Erstarren und Wieder-Aufbrechen der Gruppe.

Vor dem von De Keersmaeker gesetzten Hintergrund – Blues-Musik und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung des Pop – repräsentieren bei Exit Above die dreizehn Tänzerinnen und Tänzer Youngsters der Gegenwart, die der Sturm aus unserer verbockten Vergangenheit in eine ungewisse Zukunft schleudert. Was da kommen wird, sieht für Meskerem Mees, die von Carlos Garbin auf der Gitarre begleitet wird, nicht rosig aus. "The water rising at my door", singt sie und: "There’s so much trouble making me wonder where to go … and so I'll pack my things and go." Wohin, bleibt offen.

Kälte und Sehnsucht

Die Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine verleiht diesen Worten eine bittere, aktuelle Note. Vor Benjamins Engel verlieren Musik, Poesie und Tanz jegliche Unschuld. Mees’ Gesang ist frei von Affektiertheit, nie korrumpieren seine Untertöne die Klarheit dieser Stimme. Die sparsam gesetzten Worte erzählen von Kälte und Sehnsucht, vom Mut zum Aufbruch, der keine Autoritäten braucht, aber auch von einem drohenden Ende.

Exit Above zählt zu den besten Werken von De Keersmaeker, die bald bei Impulstanz ihr wichtigstes Frühwerk, Fase, zeigt. (Helmut Ploebst, 16.6.2023)